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S'Ole - aus dem Leben einer Walserin

Viele Erinnerungen werden in mir wach, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke. Wir waren sechs Geschwister, es gab zwei ältere und zwei jüngere Brüder sowie eine Schwester und mich. Von ihr wurde ich ganz schön „gegängelt“ (herumkommandiert), denn in kinderreichen Familien wurden die Jüngeren von den Älteren erzogen. Wir waren eigentlich ein alt eingesessenes Walser Geschlecht. Mütterlicherseits konnte man die Vorfahren bis in das 15. Jahrhundert als hier ansäßig zurückverfolgen. In der Linie meines Vaters war jedoch ein „Auswärtiger“ dazwischen. Mein Großvater wurde im damaligen Kaiserreich als Zolleinnehmer von einem Ort in Südtirol in das deutsch-österreichische Grenzgebiet Kleinwalsertal versetzt. Er ehelichte ein Mädchen aus Hirschegg. Dieser Schritt wurde meiner Großmutter zeitlebens nicht verziehen, denn damals heirateten die Walser unter sich. Da unser Familienname durch diese Verbindung auf kein altes Walser-Geschlecht zurückzuführen ist, wurde uns dieser Makel noch bis in in die jüngst vergangenen Jahre von manchen Leuten nachgetragen. Heute aber ist es wirklich schon etwas BESONDERES, wenn sich zwei Einheimische finden.

 

Der Gang zur Zwerenalpe.

Eine der herausragendsten Erinnerungen ist die Zeit, in der ich im Sommer täglich barfuß den steinigen Weg zur Zwerenalpe machen mußte, um den Milchtagesbedarf für die Familie zu holen. So war ich vom 8. bis 11. Lebensjahr der sogenannte „Milchschimmel“ (Milchträger). Ganz gleich ob Sonne, Regen oder Schnee, keiner fragte danach, wenn meine bloßen Füße und Zehen wundgeschlagen, oder vor Kälte dick und rot waren, ohne Murren hatte ich zu tun, was mir von meinen Eltern aufgetragen wurde. Kein Wunder, daß ich mir die Last möglichst zum Vergnügen machte und täglich Neues entdeckte. Die Eindruck“- und Gefühle von damals sind in mir nie verlöscht, und es kommtt mir vor, als ob manches erst gestern gewesen wäre. Wenn ich hinaufstapfte, hatte ich selten nur die leere „Butte“ (Kanne) im Rucksack». Fast täglich brauchten die Melker einen Kipf Brot oder zwischendurch ein „Modepäckle“ (Zichorie), so daß ich schon aufwärts genug zu Tragen hatte. Meine lebenslange bucklige Gangart hat sich wahrscheinlich dadurch entwickelt. Als Lohn bekam ich am „Mathestag“ ( 25. September, Mathias, Ende des Alpsommers) 2,- RM und als besonderes Geschenk einmal ein blaues Köfferchen mit einer großen, saftigen Birne, worüber ich so glücklich war, daß ich es nie mehr vergessen konnte.

Hatte ich bei schönem Wetter nur noch die letzten 150 Meter zur Alpe vor mir, so sah ich schon den Rauch der Hütten aufsteigen und es kamen mit jedem Schritt zuerst die Geiß und dann der Giebel der untersten Hütte zum Vorschein. Die Ziege hielt ganz vorne auf dem Dach Ausschau. Jedesmal war ich froh, endlich oben angekommen zu sein. Den Alpgeschmack von Kuhfladen, Milch, Molke, Rauch und Blacken (Unkraut) habe ich heute noch in der Nase. Beim Hüttenstall war ein großes Mistloch, genannt „Pfludderloch“, das mir mächtig Angst einflößte, weil meine Schwester erzählt hat, wer hineingerät, der versinkt und erstickt wie im Moor. Das war eine gräßliche Vorstellung für mich, und ich machte einen großen Bogen drum herum.

 

Die Alphütte mit Kapelle und Sennhütte.

In der Hütte war eine schwarzgeräucherte Küche mit Steinboden und "ärä Herdgruabä", einer offenen Feuerstelle. Die Stube mit dem rohen Holz an den Wänden, dem weißen Ofen und der tickenden Uhr war nicht nur für eine kurze Rast, sondern zum Längerbleiben gemütlich einladend. Nie versäumte ich vor dem Herrgottswinkel, mit den zwei Heiligenbildern und dem Rosenkranz, ein ehrfürchtiges Kreuzzeichen zu machen. Aber die Uhr mahnte weiterzugehen. Stärker war jedoch die Neugier, und schnell lief ich zu der kleinen Kapelle nach oben, die für eine Alpe etwas Besonderes darstellte. Woanders hatte man nur ein Alpkreuz. Andächtig kniete ich mich ein Weilchen in den kleinen Betstuhl und bekam ein richtiges Kirchengefühl. Nach einer kurzen Kniebeuge begab ich mich zur Sennhütte hinunter. Dort war ein riesengroßer, gold-kupfrig-glänzender Sennkessel, zu dreiviertel gefüllt mit Milch, aus der große Käse gemacht wurden. Kleine Gaiß- oder Schafkäsle machten die Frauen selbst, daher rührt auch der Spruch, der erklären soll, wie der scharfe Geruch des Käses zustande kam: " Waromm ischt der Chäs so räß? Ma duät'n in äs Chübele ond drückt'n mit am Füdele, dromm ischt der Chäs so räß". Die Sennküche war besonders warm, denn unter dem Kessel brannte ein großes Feuer. Ich schaute dem Senn bei seiner Arbeit eine Weile zu und ging nach einem „Pfüadi“ (Ade) in unsere Hütte hinunter, um mich auf den Heimweg zu machen.

Die Milch wurde in den „Putsch“ geschüttet und derselbe in den Rucksack gebunden. Zuvor mußte der Deckel mit Pergament umwickelt und mit festem Druck auf die Butte getan werden, damit die Milch nicht herausquellen konnte, wenn ich losrannte. Das Geräusch bergab war „tsch, tsch, tsch“, und manchmal schlug ich mir auf dem steinigen Weg vor lauter Eile mein Zehenkäppchen auf oder gar ab. Das tat fürchterlich weh, aber nach etlichen Malen paßte ich besser auf, und es passierte mir nur noch selten.

Eine Zeitlang war in mir große Angst vor Schlangen und Hornissen, weil ich gehört hatte, daß sie gefährlich sind. Ergab sich irgend ein Geräusch durch den Wind oder durch flüchtendes Wild, wurde ich starr vor Schreck, denn ich glaubte, gestochen oder gebissen zu werden. Weil mir diese Ungeheuer aber nie unter die Augen gekommen sind, lief ich beruhigter meines Weges.

Bei schlechtem Wetter begegnete mir auf dem Weg öfters ein „Wätterdätsch“ (Alpensalamander), manchmal waren es sogar zwei, die sich balgten. Ich ließ sie zu meiner Unterhaltung über meine nakten, nassen Füße krabbeln und vergnügte mich damit. Wie schon erwähnt, es gab Tage, wo es sogar mitten im Sommer sehr kalt war und auf der Alpe schneite, da fror es mich dann mächtig und ich weinte bitterlich. Zum Trost und um ein wenig warm zu werden, wartete ich neben den Kühen solange, bis endlich eine davon eine „Kuhpflatter“ (Kuhflade) fallen ließ in die ich mich schnell hineinstellte. Darin blieb ich solange, bis ich aufgewärmt den Weitermarsch antreten konnte.

War das Wetter trocken, schaukelte ich gern an den herunterhängenden Tannenästen. Immer schwang ich mich soweit wie möglich in die Höhe; da hieß es festhalten, doch manchmal landete ich unsanft auf der harten Welt und flog womöglich noch einen steilen Abhang hinunter.

Mein Traum von Gut, Geld und schnellem Reichtum, glaubte ich in Erfüllung gegangen, als ich eines Tages auf dem Weg einen goldglänzenden Füllfederhalter und etwas weiter entfernt eine schöne Jacke fand. Da war ich überglücklich. Aber nicht lange, denn zu Hause vorgeführt, mußte ich beide Teile zum Gendarmerie Posten-Kommando bringen. Man erklärte mir, das wäre das Fundamt. Ich mußte alles dortlassen und wurde mit einem kurzen Kopfnicken abgefertigt. Damit erlebte ich eine große Enttäuschung, erfuhr, daß Träume Schäume sind und war geheilt. Am Sonntag war mir der Gang auf die Alpe ein Greuel. Zuerst mußte ich in die Frühmesse, dann in das Hochamt und nachher raus aus dem „Sonntagshäß" (Gewand), um mich auf den Weg zu machen. Während dem ersten Drittel des Aufstiegs hörte ich vom Dorf das Bimmeln der einzigen Sommerkuh, die ich um ihr ruhiges Dasein beneidete. Einmal habe ich vor lauter Protest so „g'stored“ (war langsam unterwegs), daß ich erst abends oben angekommen bin.

Noch heute spüre ich den Schreck in mir, als ich die Stubenuhr sieben mal schlagen hörte und es in der Hütte mucksmäuschenstill war. Die letzten Sonnenstrahlen schienen zu den kleinen Fenstern herein und kein Mensch war zu sehen. Da war es mir nicht mehr wohl in der Haut, denn das hatte ich noch nie erlebt. So fiel mir ein, daß die Älpler mit dem Vieh zur oberen Alpe gezogen waren. Wohl oder übel mußte ich auf den Weg dorthin, das war nochmal über eine halbe Stunde Anstieg, und kam endlich zu meiner Milch. So schnell wie möglich rannte ich heimwärts, aber die Dunkelheit holte mich ein. Auf dem letzten Stück Weg sah ich plötzlich eine Gestalt und erkannte mit freudigem Erschrecken meine Mutter, die mir entgegenkam.

Komischerweise schimpfte sie nicht mit mir.

Anscheinend war sie über mein langes Ausbleiben sehr besorgt, was für mich eine Genugtuung war. Immerhin war ich an diesem Sonntag von morgens elf Uhr, bis abends neun Uhr unterwegs.

Wenn ich manchmal eines der Dorfkinder dazu brachte mitzugehen, da beeilten wir uns nicht allzusehr. Ich stieg mit ihm auf dem unteren Weg, der zwar weiter, aber nicht so beschwerlich war der Alpe zu und zur Abwechslung pflückten wir viele Blumen und stiegen noch auf die Kuhgehrenspitze oder auf einen anderen Berg. Da war der Abstieg ein langes, steiles Grasmahd, wo es Anemonen und Arnika zu tausenden gab. Darunter waren aber viele stachlige Disteln, die unsere bloßen Füße schwer mitnahmen.

Wenn ich zu lange unterwegs war gab es zu Hause ein Donnerwetter, denn sie wußten genau die Wegzeit zur Alpe, zumal ich manchmal den Auf- und Abstieg im Schnelltempo von nur 1 1/2 Stunden bewältigte und mich zeitmäßig damit preisgab.

Sah mein Vater die großen Blumensträuße so war er ungut und mahnte:" Da haben ja die „Emmen“ (Bienen) nichts mehr zu holen." Er behauptete, daß seine Bienen bis auf die Bergwiesen der Zweren-und Riezleralpe fliegen würden, um Nektar zu holen.

Im Tal war nach der Heuernte für die Bienen Schmalhans, denn es war außer in unserem Gärtchen nirgends mehr ein Blümchen zu finden, weil die Bauern alles abmähten, um im Winter für das Vieh genug Futter zu haben. Das Walsertal war zu dieser Zeit eine grüne Oase mitten in den Bergen. Da Sträucher und Bäume den Heuertrag geschmälert hätten, ließ man sie nicht aufkommen.

 

Heuernte

Öfters halfen wir dem „Vetter“ (Onkel) Leopold bei der Heuernte. Meine Mutter kam mir da komisch vor, weil sie statt dem gewohnten „Walserhäß" (Walsertracht) eine Wickelschürze trug. Diese Kleidung war für sie leichter und nicht so heiß, doch sie sah darin ganz fremd aus. Als ich größer war, durfte ich auf dem Heustock die Schochen zerlegen und feststampfen. Das war sehr anstrengend, aber schöner, als draußen das Heu auf die „Heinzen“ zu hängen. Mein Onkel schleppte ununterbrochen „Schochen“ (Heubündel) über die Leiter herauf, sodaß ich fast außer Atem geriet. Man hatte noch keine Heuwagen, alles mußte eingetragen werden. Ich möchte nicht wissen, wie müde er manchmal war, denn er ging damals schon auf die siebzig zu.

 

Der Vetter Lebold und d's Ohle.

In seiner Stube waren viele Uhren, die durcheinander tickten, denn er war nebenbei Uhrmacher. Bei ihm war immer aufgeräumt und alles sauber geputzt. Da er ledig war, gab es keine Kinder, die einen Dreck gemacht hätten. Da kommt mir das alte, flache Walserhäuschen und das Ohle (Großmutter) in den Sinn. Die schwarze Küche, die Stuba und das kleine Gärtchen unter dem Haus, in dem ein paar Stachelbeerstauden wuchsen, kann ich mir noch genau vorstellen. Die einzelnen sauren grünen Beeren durfte ich ohne zu fragen essen.

Etwas Besonderes für mich war beim Ohle, die mit dem Onkel Leopold zusammen wohnte, das „Hüsle“ (WC). Es gab eine große und eine kleine Sitzgelegenheit, worauf sich ein Klappdeckel zur Verhütung der unangenehmen Gerüche befand. Das Holz war sauber, weiß gebürstet, und weil es so still rund herum war, denn außer dem Ohle war niemand im Hause, hörte man den Holzwurm ticken. Ich blieb solange sitzen und wartete, bis er endlich anfing und nach einer Weile wieder verstillte. Darüber vergaß ich die Zeit, und das Ohle kam besorgt zum Nachschauen, warum ich wohl solange aus sei? Vielleicht hatte es Angst, ich wäre auf die Erwachsenenstelle geklettert und könnte abgekippt sein.

So stöberte ich durch das ganze Haus, und eines Tages kam ich in ein Zimmer, wo lauter Schützenfahnen hingen. Das waren Schießpreise meines Onkels. Auf einer Fahne befand sich ein schreckliches Bild: Ein Mann, trägt ganz gebückt ein schweres, großes Holzkreuz. Darauf sitzt ein keifendes Weibsbild, das mit einem Stöckelschuh auf ihn einschlägt, und darunter steht geschrieben: „Das Kreuz allein war nicht so schwer, wenn nur das böse Weib nicht war!" Immer wieder zog es mich dorthin, denn ich bedauerte den Mann sehr und glaubte nun zu wissen, warum mein Onkel ledig geblieben war.

 

Beim Bügeln

Da unsere Familie ziemlich groß war, gab es reichlich Wäsche zum Bügeln. Die Magd benützte dazu ein Kohle- Eisen, das sie zwischendurch hin- und herschwang, damit der Luftzug die Kohle zum Glühen brachte und das Eisen heißer wurde. Da muß ich noch sehr klein gewesen sein, denn ich saß dabei und schaute ihr zu, wie sie bügelte. Weil das Eisen schön glänzte und sich hin- und herbewegte, verspürte ich einen plötzlichen Drang und legte meinen Handrücken daran; es machte „zisch“ und die ganze Haut war weg. Das brannte fürchterlich, doch die Mutter bereitete schnell zur Linderung einen Umschlag mit Johannisöl, das sie für solche Fälle angesetzt hatte. Das Bedürfnis, das Eisen zu berühren, hatte ich danach nie mehr. Einige Jahre später, wurde das Kohle-Bügeleisen durch ein elektrisches ersetzt. Bei uns gab es schon elektrisches Licht. Im Herd mußte jedoch zum Kochen Feuer gemacht werden. Als die Nachbarin als erste im Dorf nur einen Schalter umdrehen mußte, um eine heiße Kochstelle zu bekommen, staunten wir nicht schlecht, denn keiner konnte begreifen, wie so etwas zustande kam.

 

Die Kellerfalle.

Ein weiteres Malheuer passierte mit der „Kellerfalle“ (Falltüre). Dieselbe trennte die Küche vom Keller, und wenn sie offen war, wurde sie von den Erwachsenen mit einem Riegel an der Wand festgemacht. Denselben löste ich, und sie fiel mit Schwung zu. Leider erwischte es noch meine kleine Zehe, die zu Matsch gedrückt wurde. Der Arzt flickte meinen Fuß wieder zusammen. Jahre vorher wäre es schlimm ausgegangen, denn es gab hier keinen Doktor, nur eine Hebamme die über 60 Jahre ihren Dienst versah und bei jeder Witterung die Frauen bei Tag und Nacht betreute. Sie brachte in mancher Familie drei Generationen zur Welt. Natürlich bekam ich als kleines Mädchen des öfteren eine Puppe zum Spielen. Den ersehnten Puppenwagen, wie ihn andere Kinder vom Dorf hatten, bekam ich nicht. An den Puppen hatte ich nie lange Spaß, denn einer meiner kleineren Brüder konnte es nicht lassen, und drückte jeder Puppe heimlich die Augen ein, sodaß sie statt Schlafäugen nur Höhlen im Gesicht hatte. Da legte ich sie dem Christkind hinaus mit der Bitte, der Puppe die Augen zu reparieren. Tatsächlich bekam ich sie pfennigganz, mit anderen, schönen Kleidern zurück, und ich freute mich mehr darüber, als wie über eine neue.

 

Ostern

Sogar der Osterhase kam fast jedes Jahr zu uns. Wir bekamen zwei gefärbte Eier und einen roten Zuckerhasen. Ich freute mich schon tagelang auf den Morgen, und wie es wieder so weit war, stand ich früh auf, um in der Stube die Nester vorzufinden. Alles war öd und leer, anscheinend hatte er uns vergessen. Meine Eltern waren auch nicht da, und ich kam mir ganz verlassen vor. Da erfuhr ich von der Magd, daß mein Ohle gestorben war und das Osterfest in unserer Familie diesmal ein Trauertag sei . Ich konnte mi r das „Möösle“ (moosiges Gelände) ohne Ohle fast nicht vorstellen und spürte die Lücke, die sie hinterlassen hatte.

Jahre später, nachdem meine Schwester in der Kochschule gewesen war, probierte sie allerhand gute Rezepte aus, und auf Ostern fabrizierte sie eine Schokoladentorte. Sie hatte dieselbe schon einen Tag zuvor fertiggemacht, und für uns stellte diese eine süße Versuchung dar. Meine Brüder schlichen sich in den Keller, höhlten die Torte unter dem Schokoladehasen aus, stopften das Loch mit Papierbollen zu und setzten den Hasen wieder darauf. Von außen konnte man nichts Verdächtiges bemerken, aber die böse Überraschung erfolgte am Ostertag, als meine Schwester dahinterkam. Sie weinte vor Wut, und die Buben waren sehr zerknirscht. Nur ich fühlte mich diesesmal unschuldig, obwohl mir die gestohlenen Brösel prima geschmeckt hatten.

Weil ich auf Süßes so begierig war und schon längst wußte, daß es den Osterhasen in Wirklichkeit gar nicht gibt, machte ich hinter dem Bienenhaus ein Nest, um Süßigkeiten herauszuschinden. Tatsächlich fand ich manchesmal ein paar „Guetzle“ (Süßigkeiten) darin vor und war, um weitere zu bekommen, recht „addehr“ (lästig), sodaß meine Angehörigen das Spiel nicht mehr länger mitmachen wollten. Eines Tages schaute ich gespannt nach und hoffte, es läge wieder ein Zuckerei drin. Zu meinem Schrecken sah ich, daß jemand mitten ins Nest einen Kackehaufen gesetzt hatte, der schrecklich stank. Entsetzt zog ich ab und bettelte nie mehr auf diese Weise bei meinen Mitmenschen um Süßigkeiten. Allerdings kam ich erst nach Jahren dahinter, wer mir den Possen gespielt hatte. Natürlich einer meiner älteren Brüder.

 

Die Straße

Von der Tochter meiner Tante bekam ich des öfteren Kleider zum Auftragen. Eines Sonntags wurde ich schön angezogen und rannte so im Dorf umher. Wegen eines Streites jagte mir ein Bub nach, aber ich machte mich so schnell wie möglich davon, um von ihm nicht erwischt zu werden. Da wurde mir der Schotter der Straße zum Verhängnis. Ich fiel mit soviel Schwung hin, daß ich auf dem Bauch noch meterweit geschlittert bin. Das Kleid war völlig zerrissen, und meine Knie und Ellenbogen aufgeschlagen. Wie das die Mutter sah, war sie natürlich „narred“ (wütend), und ich bekam zu allemhin noch Schläge.

 

Autos

An die Zeit, als die ersten Autos ins Kleine Walsertal kamen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Für mich war ein Gefährt ohne Fuhrmann schon selbstverständlich. Anders bei meinem älteren Bruder. Meine Mutter lachte noch oft über ihn und sein Verhalten, als er eines der ersten Autos sah, das auf ihn zukam. Er geriet außer Rand und Band, flüchtete ins Haus und schrie aus vollem Halse: „Chomm waile geluägä, da chont äs Fuerwerch ohne Roß, äs Fuehrwerch ohne Roß!" Das war für ihn etwas ganz Neues, und er konnte sich die unfaßbare Fortbewegung nur so erklären.

 

Die Schule

Endlich kam der erste Schultag. Meine Mama nähte mir ein hellblaues Schürzchen, und die Lehrerin hatte ihre Zöpfe zu einer Schnecke im Nacken gewunden. Im Spätherbst am 1. Oktober begann die Schule, denn im Walsertal hatten die Kinder 4 Monate „vakance“ (frei), weil die Buben auf der Alpe oder in der Landwirtschaft gebraucht wurden. Dafür hatten wir zu Weihnachten und Ostern nur an den Feiertagen frei. Die erste Lektüre des Lehrers vergesse ich nie! Er sagte: „Liebe Kinder, ab jetzt dürft ihr in der Schule nicht mehr so reden wie daheim (wir konnten nur Walser Dialekt), sondern wir sprechen hochdeutsch. Es wollte mir nicht in den Kopf hinein, daß es nun DIE BUTTER heißen sollte und nicht mehr wie bisher der BUTTER.

Nachdem ich einige Wochen in der Schule war, wurde leider meine Lehrerin in einen andern Ort versetzt. Da es in unserm Garten die Blumen eingeschneit hatte, schnitt meine Mutter viele ab, und ich durfte ihr einen Strauß zum Abschied bringen. Bei der Übergabe würgte es mich im Hals, und es kamen mir die Tränen. So fühlte ich das erstemal in meinem Leben – ABSCHIEDSSCHMERZ.

 

Arbeiten im Herbst.

An anderen Herbsttagen mußten wir mit dem „Dädda“ (Vater) in den Buchenwald zum Laub „wüscha“ (kehren). Die Arbeit verrichteten wir gerne, denn es gab am Abend dafür einen frisch gefüllten Laubsack, statt Matratze ins Bett, der beim Draufliegen „schö chroschlet hed“ (schön raschelte). Anfangs war er prall gefüllt und daher fiel ich nachts des öfteren heraus auf den Boden. Erst wenn er eine Mulde hatte, konnte ich ruhig schlafen.

Man schickte uns in dieser Herbstzeit auch zum Stauden (Beerensträucher) schneiden, damit mein Vater daraus „Frusa“ (kleine Besen) binden konnte. Die hängte man mit einem Spagat vor die Haustüre, damit der Schnee von den Schuhen gekehrt werden konnte. Zum Säubern des Herdes fertigte er ein paar kleinere an. Zuerst waren die Besen ganz buschig, nach ein paar Monaten jedoch abgenützt und nur noch die Strünke übrig, die einige Zeit unnütz umherhingen.

 

Der Blinddarm.

Einmal hatte ich mich beim „Laubwüscha“ (zusammenkehren) erkältet. Ich bekam fürchterliche Bauchschmerzen, und meine Eltern meinten, es käme von den Bucheckern, die ich an dem Nachmittag gegessen hatte. Als es ganz schlimm wurde, rief man den Gemeindearzt, Dr.Vinazzer. Der stellte eine akute Blinddarmentzündung fest. Sofort holte er sein Auto, das einzige im Dorf und ich wurde im Beisein meiner Mutter, die dazu das bessere „Haß" (gute Kleidung) angezogen hatte, im Eiltempo nach Sonthofen ins Spital gebracht. Der Doktor muß bei den damaligen Straßenverhältnissen, Kurven, Steigungen, Schlaglöchern und Schotter, wild gefahren sein, denn wir waren in einer knappen halben Stunde an Ort und Stelle. Ich wurde sofort operiert, und es stellte sich heraus, daß der Blinddarm kurz vor dem Durchbruch war. Sogar in der Kirche wurde für mich gebetet, das hat mir sehr imponiert und mich anscheinend vor Schlimmerem bewahrt. Ich weiß noch gut, daß über meinen Bauch ein großes Pflaster geklebt war und ich im Erwachen nach der Narkose schrie:" Des Pflaster weg, des Plaster weg!"

 

Nach dem Aufstehen.

Unsere Schlafzimmer waren im Winter eiskalt und hatten keine Waschgelegenheit. Jeder wusch sich morgens in der Küche mit kaltem Wasser, am „Ferger“ (Wasserbecken). Die Mama kämmte und zopfte mir meine Haare. Hie und da rupfte es fürchterlich, besonders wenn sie den Lauskamm benützte. Da schaute sie strengstens nach, ob sich keine unerwünschten Bewohner angesiedelt hatten; damals kam das noch öfters vor. Zum Beispiel sahen wir bei einer Schulnachbarin die Tierchen nur so krabbeln und machten uns darüber lustig. Eines Morgens hörte ich im Halbschlaf Glockengebimmel. Das war eine Aufregung, denn es hatte geschneit und der Fuhrmann kam mit dem Schlitten ins Dorf. Ich hüpfte schnell aus dem Bett und sah, daß draußen alles weiß und weich war.

„D's Morged“ (zum Frühstück) gab es „Riebel“ (gebratene Polenta), oder „Rösti“ (gebratene Kartoffeln). Schon während dem Zubereiten stand ich am Herd und fraß heimlich die angebratenen Schwarten aus der Pfanne, wobei ich mich nur nicht erwischen lassen durfte. Denn bei Tisch wachte mein Vater streng darüber, daß keiner zu schnell zulangte, um dadurch mehr abzubekommen. Wenn die Pfanne leer war, bekamen wir nichts mehr, obwohl uns der Magen noch knurrte. Kurzerhand verrichtete man das Dankgebet, und jeder ging seiner Arbeit nach.

 

Bei der Ludwina.

Am liebsten aß ich Krautspatzen. Die Ludwina, unsere ehemalige Haushaltshilfe, nahm mich nach der Messe mit zu sich in den Zwerwald und machte sie mir. Sie war jung verheiratet und hatte noch keine Kinder, darum verwöhnte sie mich gerne.

 

Kirchengeschichten und -feste.

Wir mußten täglich zur heiligen Messe. Zweimal in der Woche war Schüler-Singmesse, dazu spielte der Herr Lehrer die Orgel, das war schön. Ansonsten ging ich nie gerne in die Kirche, weil man uns bei jeder Gelegenheit dorthin schickte. Sonntags sogar dreimal, sodaß der halbe Tag hin war. Wir waren die reinsten Kirchenstatisten, und ich glaube, meine Eltern waren halt in diesen Stunden sicher, daß wir nichts anstellen konnten. Da die Lehrerin direkt hinter uns kniete, paßte sie wie ein Geier darauf, uns beim Schwätzen oder Stoßen zu erwischen. Wegen ihr mußten wir uns sehr ruhig verhalten und konnten keinen Muckser tun. Ich vertrieb mir meine Langeweile mit den brennenden Kerzenlichtern, die ich abzählte und dann meine Augen so verdrehte, daß es plötzlich doppelt so viele waren. Sonst schielte ich lieber nicht, denn meine Mutter drohte, mein verdrehtes Geschau und das entstellte Gesicht würden mir eines Tages für immer so bleiben. Da ich eitel war, beängstigte mich eine solche Prophezeiung sehr, aber zum Zeitvertreib in der Kirche machte ich es doch immer wieder.

Als ich endlich erwachsen wurde, betete ich nur noch im Notfall, denn ich war der Meinung, auf der Haben-Seite wäre von früher noch genug vorhanden.

Ein großes Dorffest mit vielen Feierlichkeiten wurde veranstaltet, wenn die Gemeinde einen neuen Pfarrer bekam. Tagelang fertigten die Mädchen und alten Jungfrauen lange Reisiggirlanden an, und die Männer stellten einen großen Maibaum mit weißgelben Schleifen vor dem Pfarrhaus auf. Es spielte die Blechmusik, und der Kirchenchor sang schöne Lieder, die jedoch manchmal falsch klangen. Wir durften die weißen Kleidchen anziehen, Gedichte aufsagen und kamen uns sehr wichtig vor. Noch tagelang wehte am Kirchturm eine weißgelbe Fahne. Ganz ähnlich verlief der Firmtag, wo mir der Ausflug mit dem Auto und das Geschenk meiner Patin, eine goldene Uhr, am wichtigsten waren. Diese durfte ich nur an Sonntagen tragen. Zum Patrozinium am 21. November kamen einige Pfarrherrn in die Kirchengemeinde auf Besuch. Darunter meistens ein Onkel oder der Großonkel von mir. Meine Mutter war sehr stolz auf sie, denn es war ihre Verwandtschaft, und ich fühlte mich als etwas Besonderes vor den Mitschülern, denn manchesmal richteten die hochgeachteten Herren ein paar persönliche Worte an mich. Wenn sie in der Kirche das Meßopfer hielten, war ich sehr andächtig und verfolgte mit glänzenden Augen die hl. Handlung.

 

Weihnachten.

In der Vorweihnachtszeit mußten meine zwei jüngeren Brüder und ich nach dem Nachtgebet zum Christkindle beten. Für jeden gebeteten Rosenkranz gabs zur Belohnung einen Strich. Wir leierten im Bett die Gebete schnell herunter, damit wir viele Striche auf den Zettel bekamen. Derselbe wurde mit dem Wunschbrief an das Christkind hinausgelegt und wir hofften dafür auf viele gute Gaben.

Alle Wünsche konnte es uns jedoch nicht erfüllen. Da mein Bruder sehr oft seine Hosen zerriß, war er darüber anscheinend doch bekümmert, denn er schrieb ihm unter anderem:" Liebes Christkind, ich wünsche mir heuer eine Hose aus Blech, in die ich keine Löcher mehr machen kann." Er wurde mit einer sehr starken Stoffhose, die ihm standhielt, befriedigt.

Das Christkind bedeutete für uns „das Schönste“ von allem. Ich glaubte inbrünstig daran, wenn auch der Nachbarsbub das Gegenteil behauptete. Ich schloß daraus, daß ihn das Christkind wegen seiner Ungezogenheit ausließe und ihm deshalb seine Eltern etwas hinstellten. Wo sollten wir armen Leute für den großen Gabentisch das Geld hernehmen? Denn wir bekamen viele Geschenke; es gab Plätzchen, Schokolade, Marzipan und sämtliche Kleidung für die kalte Jahreszeit. Zur Mitternachtsmette zogen wir gleich die neuen Sachen an. War das ein Weihnachten!

Mein inniger Glaube an das Christkind wurde ausgerechnet an einem Tag des Heiligen Abends jäh zerstört. Einige Kinder sowie der Nachbarsbub und ich unterhielten uns über das Christkind. Er blinzelte mir dauernd zu und tat so, als ob es dasselbe nicht gäbe. Ich hatte darüber meine eigene Meinung, blinzelte jedoch zurück. Die andern Kinder waren nicht blöd, gingen heim und erzählten ihrer Mutter, ich hätte gesagt, es gäbe kein Christkind. Dieselbe stellte mich noch am gleichen Tag wütend zur Rede, und so erfuhr ich die traurige Wirklichkeit. Keinem konnte ich meine Unschuld beweisen und fühlte, daß mir nicht einmal meine Mutter glaubte, darüber war ich sehr unglücklich. Da dachte ich an ein schöneres Weihnachtsfest zurück. Damals waren wir tagsüber zu Fuß unterwegs, um den Christbaum zu holen, denn es hatte noch keinen Schnee. Vorher spielten wir im Dorf beim „Ausruf stein“, wo es von der Straße her mächtig staubte, wenn ab und zu ein Fahrzeug vorüberfuhr. (Auf diesen Stein stellte sich allwöchentlich der Bürgermeister zur Bekanntgabe der Verordnugen). Endlich wurde es Abend, und wie immer warteten wir voll Ungeduld auf die Bescherung, die sehr spät stattfand, da meine Eltern noch für die letzte Kundschaft den Laden bis in die tiefe Nacht hinein geöffnet hielten. Nach langer Zeit wurde es still im Haus, und wir hörten ein Glöcklein klingeln. Wie verrückt rannten wir die Treppe vom Schlafzimmer zur Stube hinunter, die hell erleuchtet war. An der Vorhangstange hing ein braungeblümtes Samtkleidchen mit beigem Seidenkragen und Stulpen. Das konnte nur mir gehören, und vor Freude fiel es mir schwer, vor der Bescherung noch das traditionelle „Stille Nacht, heilige Nacht“ mitzusingen. Meine Brüder konnten es nicht lassen, bei dem schönen Lied den Text zu verdrehen und mir damit das andächtige Weihnachtsgefühl zu nehmen. Einer sang immer leise, sodaß nur ich es hören konnte: „Stille Nacht, heilige Nacht, D'Bettstatt kracht, dr Hafa lacht“ (der Nachttopf lacht), was ich sehr lächerlich, aber richtig gemein empfand, denn so etwas entweihte in meinen Augen das schöne Fest.

Am Weihnachtstag, wo es warm wie im Frühling war, durfte ich in dem Kleidchen und einer großen Masche im Haar mit meiner Mama in die Vesper. Obwohl erst fünf Jahre alt, war ich sehr stolz und schon ein wenig hoffärtig.

 

Silvestertag.

Der nächste aufregende Tag war Silvester, da hieß es „Neujahrspringen“ (ein alter Walser Brauch). Tagszuvor häkelte ich einen kleinen, bunten Beutel aus Wollresten und machte eine lange Schnur zum Umhängen daran. In den Beutel tat ich die Münzen, die ich fürs Neujahrwünschen von Haus zu Haus bekam. Jedesmal rief ich ganz laut: „I wönsch na as guats Nüs Johr alla mittanand!" In der Frühmesse waren alle Kinder sehr ungeduldig, und kaum hatte der Pfarrer das Weihwasser gespritzt, rannten wir zur Freude der Erwachsenen schon in der Kirche los. Wir gingen in kleinen Gruppen auf den Weg, wo uns die Häuser in der näheren Umgebung halb so wichtig waren. Wir stapften zu den entlegendsten Weilern viel lieber, obwohl es bei diesen Leuten am wenigsten Pfennige gab, denn je weiter weg die Leute wohnten, umso ärmer waren sie. Bei Unzufriedenheit riefen wir ganz böse: „I wönsch na as schlächts Nüs Johr alla mittanand, der Teifel hocket ob dr Wand, ma git so nüd, es ischt a Schand!" (Wir wünschten ein schlechtes Neues Jahr, sahen den Teufel hinterm Haus, denn sie gaben uns so wenig, daß es eine Schande sei). Das begehrteste Ziel an diesem Tag war die Klinik in der Schwende, dort warfen uns die Patienten Plätzchen, Äpfel und Nüsse zu, und wir sangen dafür gerne ein Weihnachtslied.

Bei der Gelegenheit lernten wir unsere Umgebung kennen. Selbstverständlich war, dass wir nur in unserm Dorf „Neujahren“ durften. Die Hirschegger lagen bestimmt auf der Lauer, um uns beim „Grind“ zu nehmen. Gegen Abend kamen wir steinmüde zurück. Einmal liefen wir zum Abschluß noch in den Zwerwald. Im vorletzten Haus verweilten wir noch einige Zeit bei unseren „Gottakindern“ (Patenkindern). Ein Mädchen und mein Bruder gingen jedoch noch weiter und wollten die paar Pfennige beim letzten Haus erwünschen. Da fiel ein Hund meinen kleinen Bruder an und biß ihm die Oberlippe durch. Blutüberströmt lief er mit uns nach Hause, und von dort wurde er gleich zum Arzt gebracht. Dieser nähte die Wunde zu, aber noch heute erinnert die Narbe an das schreckliche Jahresende.

 

Neujahren.

Am Neujahrstag gingen wir zum Vetter, zur Base und zur Gotta. Das waren unsere Nächstverwandten im Dorf, und es gab für die Wünsche einen Silberling. Unser Vetter rückte ungern damit heraus, denn das Geld war sehr knapp. Die Gotta tischte jedes Jahr Zopfbrot mit Kaffee auf, und wir blieben bis zum Abend dort. Einmal gingen wir mit unsern Eltern beim Mondschein nach Hause. Da sah ich das erstemal, daß um den Mond ein Wolkenschleier war, und mein Vater erklärte mir, daß der Mond einen „Hof“ hätte, das könnte einen Wetterumschlag bedeuten.

Am Dreikönigstag gings zur anderen Base nach Mittelberg. Das war ein weiter Weg, und meistens ging die Mutter mit. Die „Bäs Stasi“ (Tante Annastasia), freute sich besonders über unseren Besuch; ich wußte von meiner Mutter, daß ihre Schwester nach ihrer Heirat unglücklich war, weil sie Riezlern verlassen mußte und fortan in Bödmen bei Mittelberg ansässig war. Bis zu „Lichtmeß" mußte die ganze nähere Verwandtschaft aufgesucht worden sein, natürlich auch die Firmgotta und der „Götte“ (Pate). Es war Brauch, jedem persönlich ein gutes Neues Jahr zu wünschen und die älteren Leute nützten die Gelegenheit für an „körigä Hängert mittanand“ (Gedankenaustausch, Unterhaltung).

 

Diphtherie.

In dieser Winterszeit ging im Dorf eine Schreckensbotschaft um; DIPHTHERIE! Schon waren einige Schüler davon betroffen, und jede Woche kamen Neue dazu. Man richtete im Kaplanhaus eine Quarantänestation ein, und ich weiß noch heute, daß eines Abends der Doktor zu uns kommen mußte, weil sich meine Schwester und ein Bruder angesteckt hatten. Sofort mußten sie aus dem Haus und auf die Station gebracht werden. Meine Mutter weinte, aber mir tat es leid, daß ich gesund geblieben war und deshalb nicht mitgenommen wurde, denn ich wollte überall dabei sein. Voller Neid sah ich, wie die beiden weggebracht wurden; als ich auch noch erfuhr, daß die Pflegerin den Kindern manchmal einen Kuchen backen würde, hätte ich die Krankheit dafür in Kauf genommen, weil ich denselben so gerne mochte. Ganz änderst wurde mir, als ich hörte, daß ein Mädchen an der Krankheit gestorben war.

 

Das Fuchspassen.

Mein Vater ging im Winter etliche Nächte in der Woche zum „Fuchspassen“. Bevor wir schlafen gingen, sahen wir ihn das Gewehr putzen und den Schafpelzmantel hervorholen. Morgens ging ich als erstes voller Neugier ins kalte Vorhaus, da lag der erlegte Fuchs, manchmal waren es sogar zwei. Daneben wachte argwöhnisch unser „Waldi“ (der Hund). Tagsdarauf zog der „Däddä" (Vater) dem Fuchs das Fell ab und spannte es mit der Haut nach außen auf ein dafür bestimmtes Brett. Nach Wochen wurde der Balg umgedreht, kräftig geschüttelt und fertig getrocknet. Bis zum Frühjahr waren es ca 30 Fuchsbälge, die mein Vater gerben ließ und verkaufte. Meine große Schwester bekam so einen Pelz und legte ihn im Winter am Sonntag zur Kirche um den Hals. Andere Töchter, deren Väter ebenfalls Jäger war, trugen auch einen Fuchspelz, doch mein Vater sagte, meine Schwester hätte den schönsten, was in meinen Augen die anderen vollkommen abwertete. Trotzdem fand ich es komisch – so einen Pelz um den Hals zu legen, und ich hätte das nicht gewollt.

 

Der Heuzug.

Jeden Winter mußten die Bauern in den Heuzug. Aus den „Dristen“ wurden viele „Bürden“ gemacht, die man mit dem Schlitten zu Tal brachte (Das Bergheu blieb solange oben, bis der Schnee die Abfuhr ermöglichte). Das war eine sehr gefährliche Arbeit, die Männer trugen dazu hohe Gamaschen und hatten grob genagelte Schuhe an, die sie als zusätzliche Bremse einsetzen konnten. Ein junger Bursche (Fuchseggers Leo) half meinem Vater das Wildheu abfahren. Statt mit den Schuhen zu bremsen, schnallte er die Skier an, begab sich vor dem Schlitten in die Spur und raste los wie der Teufel. Vor Schreck schloß mein Vater die Augen und machte sich gefaßt, den Mann auf der Strecke halbtot wiederzufinden oder nur noch seine gebrochenen Knochen auflesen zu können. Zu seinem Erstaunen hatte der Leo die Fahrt unversehrt überstanden und erwartete ihn unten mit einem Lachen. Auf diese Weise brachte der Betreffende das ganze Heu ins Tal und wiederholte den Ritt noch etliche male.

 

Das 1. Skirennen.

Nie vergessen werde ich mein erstes Skirennen. Schon Wochen vorher waren die Preise ausgestellt. Ich drückte meine Nase an der Auslage platt, denn es gab Skier, Stöcke, Keßlers Steig- und Gleitwachs, farbige Mützen, Schals und Handschuhe. Für die schnellste kleine „Maikä" (Mädchen) war eine Walserpuppe vorgesehen. Obwohl ich noch fast nicht fahren konnte, bildete ich mir ein, dieselbe zu bekommen. Noch heute sehe ich mich im Schneckentempo, mit vielen Stürzen, den Hang hinuntermurksen. Anscheinend verhinderte ich das ganze Rennen, denn plötzlich nahm mich ein Skilehrer (Winkels Arnold) unter den Arm und fuhr mit mir durchs Ziel. Da die Leute lachten und klatschten, schämte ich mich, hatte jedoch auf den Skilehrer und nicht auf mein schlechtes Fahren einen Zorn. Nach dem Rennen gab es für alle Kinder im Gasthaus Stern in der Schwartlingsritter-Stube, Kaffee und Kuchen. Anschließend fand die Preisverteilung statt. Die Puppe bekam ein anderes Mädchen, die ein Jahr älter war und besser skilaufen konnte. Mir gab man eine riesige Schachtel Pralinen, worauf ein Vergißmeinnichtstrauß abgebildet war. Dadurch konnte ich die Walserpuppe verschmerzen.

 

Äs Chrömle.

In der Fastnacht war die Mama manchesmal zum Kaffeekränzchen eingeladen. Sehnsüchtig erwartete ich sie zurück, denn das „Chrömle“ (Mitbringsel) bestand aus einigen Stückchen Torte. Das war etwas Besonderes, und so gut hat es mir in meinem Leben nie mehr geschmeckt. Wir waren schon selig, wenn die Mutter „Chüachle“ machte. (Schmalzgebackenes) Oder wenn uns ein „Reisender“ (so hieß man die Vetreter) eine Tafel Schokolade schenkte, die wir mit allen teilen mußten. Dazu zählten wir die Rippchen genau ab.

Am Fastnachtssonntag kamen zu uns Leute auf Besuch, und es war ganz feierlich. Diejenigen wurden eingeladen, welche bei der Lageraufnahme“ (Inventur) mitgeholfen hatten. Sie wurden mit Wein und Plätzchen bewirtet und spielten bis spätnachts Tarock.

 

Inventur.

Bei der Inventur war das Geschäft zwei Tage geschlossen. Es mußten alle vorhandenen Waren aufgeführt und berechnet werden; das gab für mich aufregende Tage. Viele Leute waren damit beschäftigt, und ich schaute gerne zu, wie die Mädchen alles zählten und abwogen. Dabei entdeckte ich ein Kartenalbum, das meine besondere Aufmerksamkeit erweckte. Jeweils fünf Ansichten bildeten die Geschichte. Eine war besonders traurig, und der Text lautete: „Ja weißt du Muatterl, was i träumt hab?" 1. Karte: Eine Mutter hat ihr krankes Kind auf dem Schoß. 2. Karte: Das Kind sieht die Englein im Himmel und wünscht sich, bei ihnen zu sein. 3. Karte: Das Kind bekommt Engelsflügel und schwebt dem Himmel zu, die Mutter hat ihr Kind nicht mehr. Darüber mußte ich schrecklich „zannä" (weinen), doch die andern wußten nicht weswegen und fragten mich aus. Als sie hörten, warum ich Tränen vergoß, lachten sie mich aus. Da tröstete und streichelte mich meine Mutter, und der Fluß versiegte.

 

Fasching.

Die Faschingszeit war für uns jedes Jahr sehr lustig. Wir hatten schulfrei, und unsere Eltern hielten die Zügel bei uns etwas lockerer. Es gab große Umzüge, und wir rannten maskiert im Dorf umher. Eines Morgens sahen wir plötzlich ein blondes, langzopfiges Mädel, das einen Schulranzen auf dem Rücken hatte und mit Skiern einen großen Satz von einer Straßenseite zur andern über die Autos hinweg machte; anschließend demonstrierte sie Überschläge und Hochsprünge. Kein Wunder, daß die Leute über soviel Verwegenheit staunten. Plötzlich erkannte ich, daß sich ein junger Mann aus der Nachbarschaft so verkleidet hatte und damit die Leute zum Narren hielt.

Unter den Walser Bewohnern gab es bald verwegene Skifahrer; sie machten 1936 bei den alpinen, deutschen Meisterschaften in Oberstdorf mit und fuhren gleich Bestzeit, obwohl die bekannten Skikanonen „Pfnürr und Cranz“ mitgemacht hatten. Leider wurden die Walser Rennläufer nicht offiziell bewertet, da sie nicht deutscher Nationalität waren.

Die beiden Burschen auf den Fotos fuhren für 5,-RM den Olympiahang bei jeder Schneelage im Schuß hinunter und besserten so ihr Taschengeld auf. Dieser Hang war nicht nur steil, sondern im Mittelteil sehr heimtückisch und bucklig. Da stellte es nur diejenigen nicht auf, die besonders gut fahren konnten und das Gelände genau kannten. Jedenfalls hat ihnen diese Attraktion keiner nachgemacht.

 

Die Hedwig.

Wenn es stürmte und schneite, besuchte ich die „Hedwig“, eine alte Witwe, die im „Hännähüsle“ (Hennenhausle) wohnte; so wurde ein kleines Walserhaus benannt. Sie redete tirolerisch, das war für mich etwas Besonderes. In ihrem Vorhaus war es fast so kalt wie draußen, doch in der Stube umso wärmer. Die Katze schnurrte, und im Käfig zwitscherte ein Vöglein. Auf einem Gestell in der Ecke wuchs ein großer Blattstock, mit silbrig-rotgrünen, haarigen Blättern und zwischen den Fenstern war Moos, wo sie kleine Waldfiguren, Zwerge, Häschen, Rehe usw. dazwischen gestellt hatte. Voller Neid betrachtete ich die schönen Dinge und wünschte mir dieselben auch für zu Hause. Ich saß stundenlang bei ihr und genoß die Ruhe, da bei uns durch den Laden immer viel Betrieb herrschte. Meine Mutter stand den ganzen Tag auf den Füßen und hatte durch die viele Arbeit kaum Zeit für mich, deshalb fand ich es bei der Hedwig so gemütlich.

 

Wintersport.

Die Freuden des Wintersports forderten damals schon ihren Tribut, obwohl es noch keine Skilifte und Pisten gab. Einigemale kamen Skifahrer durch Lawinenabgänge ums Leben; ein sehr tragisches Unglück passierte einem Skiläufer im Mahdtal. Dieser fiel bei einer Abfahrt in das einhundert Meter tiefe Hölloch. Die Bergung war sehr schwierig und nahm einige Tage in Anspruch. Es war für mich schaurig, zu wissen, daß der Tote im damaligen Kassaraum vom Schulhaus aufgebahrt wurde. Warum ich den Toten besichtigt habe, bleibt mir unergründlich, er sah schrecklich aus und ich war daraufhin lange Zeit nicht mehr so neugierig.

Zwei Tage in der Woche veranstaltete der Ski Club Riezlern, ein Skispringen, oberhalb des Dorfes. Auf der großen „Borhalde“ (ein steiler Hang) war eine Holzschanze, darauf konnte man bis zu vierzig Meter weit springen. Ich setzte mich regelmäßig auf einen Rodelschlitten ans „Helgäställe“ (der Ausdruck ist gebräuchlich für Vermächtnisse an die Kirche) und schaute intressiert zu. Die meisten jungen Burschen sprangen mit und maßen ihr Können. Es gab weite Sprünge und elende Stürze, denn der Auslauf war überhaupt nicht präpariert und erforderte jegliche Balance. Schon damals imponierten mir die Besseren. An deren Haltung konnte ich die Favoriten von den Anfängern unterscheiden. Kein Wunder, daß ich später einen Skispringer geheiratet habe.

Natürlich erfaßte auch uns Kinder die Skispringer-Welle, da wir es den Großen gleichtun wollten. An vielen Hängen wurden Schneeschanzen gebaut und gejuckt. Ich befand mich meistens unter den Buben und habe es des öfteren zu größeren Weiten gebracht wie diese. Deshalb hatten sie einen Pick auf mich und trieben mir das Skispringen folgendermaßen aus: wir waren an einem Sprunghang, der einen ziemlich langen Anlauf hatte, um den nötigen Schwung zu bekommen. Während ich hinauftrippelte, erhöhten sie die Schanze vorne mit einem Haufen Schnee, sodaß es einen sogenannten Spicker gab. Ich wollte gerade diesesmal den Weitenrekord des Nachmittags aufstellen und kam mit einem mords Tempo auf die Schanze. Es muß mich hoch in die Luft gespickt und überschlagen haben, denn lange sah ich abwechselnd Himmel-dunkel, Himmel-dunkel, Himmel-dunkel... Beim nachfolgenden Kandidaten, der hinuntersprang, sah es aus, als ob ein Radschläger in der Luft daherkäme, so verzweifelte Verdrehungen machte er. Da keinem etwas passiert war, lachten wir lauthals, doch ich hatte von da an die Schnauze voll und überließ das Springen den Buben. Mein Vater war noch aus der Zeit der Skipioniere. Er benützte die Bretter nur als Mittel zum Zweck statt Schneereifen. Zum Beispiel zur Wildfütterung, wohin er jeden zweiten Tag ging. Auf dem Weg zum Futterstand mußte er über unseren Skihang hinunterfahren, und dazu gab er Steigwachs auf seine Bretter. Den Hang nahm er daher im vollen Schuß. Meine zwei jüngeren Brüder wachsten ihm einmal heimlich die Ski mit Gleitwachs, und wir warteten der Dinge. Wie immer setzte er zu seiner obligatorischen Schußfahrt an, wurde jedoch zu schnell und konnte nicht bremsen. Unten kam ein Weg, und er schlug einen mächtigen Purzelbaum darüber hinweg. Uns blieb das Lachen im Halse stecken, denn das wollten wir nicht. Gott sei Dank gab es damals schon eine Bilgerie Bindung, sodaß die Skier ganz locker an den Füßen waren und ihm daher nichts passiert ist. Trotzdem war uns nicht mehr wohl, denn wir ahnten, daß es am Abend etwas absetzen würde, was auch geschah.

 

Frühlingszeit.

Der Winter ging dem Ende zu, und wir kamen in den Beichtund Kommunion-Unterricht. Bei der ersten Beichte machten wir uns ganz nah an den Beichtstuhl heran, um hören zu können, was unsere Mitschüler gesündigt hatten. Der Pfarrer merkte das und verbot uns diese Mätzchen. Der Festtag wurde auf den ersten Sonntag im Mai verlegt, und das Wetter war sehr schön. Ich bekam ein weißes Kleid und eine dicke Kommunionkerze, die aber schon bei der Nachmittagsfeier entzweiging, weil ich sie einem andern Mädchen im Streit über den Kopf schlug. In der Kirche waren wir alle sehr andächtig, und manchen Kindern wurde entweder von der Aufregung oder weil sie den ganzen Vormittag nüchtern bleiben mußten, übel. Da sie dadurch die Aufmerksamkeit der Leute auf sich lenkten, fand ich es schade, daß mir nie schlecht wurde. Nachmittags stattete ich meiner Gotta einen Besuch ab und lernte bei deren Kindern, im weißen Kleid, das Fahrradfahren. Von Weiß, sah man am Abend nicht mehr viel. Zu meiner Freude flogen an diesem Tag sogar die ersten Schwalben ein, und ich glaubte, sie wären meinetwegen von so weit hergekommen. Am nächsten Tag trieb man das Vieh auf die Weide, und wir durften nach langem Betteln barfuß gehen, obwohl wir anfangs des öfteren noch das „Märzäbial“ (rot entzündete Füße) bekamen. Die ersten „Hongmaiä" (gelbe Primeln) blühten auf, und ich holte alle Jahre ein Sträußlein.

Später war es uns strengstens verboten, in die Felder hineinzutappen, denn das Gras durfte nicht vertrampelt werden. Die Bauern paßten sehr auf, und darum schlich ich mich in der Dämmerung an einen Platz unter dem Kasimierhaus und pflückte voller Angst einen Strauß Vergißmeinnicht für meine Mama zum Muttertag.Für diesen Tag lernten wir in der Schule schöne Gedichte, und einmal fand die Feier im Saal des Gasthofs Post statt. Tagszuvor sollten wir Schüler für den Tischschmuck hübsche Blumen sammeln, und wer fleißig war, bekam von der Wirtin dafür als Lohn eine Tafel Schokolade. Ich wollte es mir leicht machen und begab mich auf die Mooswiese hinterm Haus. Ich holte schnell einen Arm voll weiße Hahnenfüße, weil das Pflücken mit wenig Arbeit verbunden war. Damit marschierte ich zum Postwirt und glaubte belohnt zu werden. Die Blumen wurden nicht angenommen, da sie sich für den Zweck nicht eigneten. Schokolade bekam ich auch keine und zog deshalb mit abgesägten Hosen von dannen.

Im Monat Mai war jeden Abend Andacht. Den Marienaltar schmückte man mit künstlichen Maiglöckchen, und er wurde mit vielen Lichtern so hell beleuchtet, daß ich glaubte, etwas Schöneres könnte es auf der Welt nicht geben. Viele Kinder besuchten täglich die Andacht, und wir spielten vorher und nachher „klösterlä" (ein Versteckspiel), das gehörte dazu, und ich konnte davon nie genug bekommen. Damit ich beim Zunachten freiwillig nach Hause kam, warnte mich meine Schwester, die neun Jahre älter war als ich, vor den Fledermäusen. Sie sagte, dieselben würden in der Dämmerung umherfliegen und sich in meinen Haaren verfangen. Das stellte ich mir schlimm vor und ich ließ es nicht darauf ankommen. Sonst genügte der Pfiff meines Vaters, davor hatte ich verdammten Respekt.

Wenn es das „Gebet“ läutete (Abendglocke) hatten wir uns einzufinden. Es wurde gemeinsam der „Englische Gruß" (das Ave Maria) gebetet, nachher wurden die Fensterläden und die Haustüre zugezogen und verriegelt. Das alte Schloß mit dem großen Schlüssel existiert leider nicht mehr.

Meine Mutter stand noch immer im Laden, erst nach neun Uhr wurden die Rollos heruntergelassen und zugesperrt. Im Sommer war ab sechs Uhr früh durchgehend bis zum Abend geöffnet, es gab noch keine Mittagspause. Sogar am Sonntag kamen die Leute, die außerhalb des Dorfes wohnten und tätigten nach der Kirche ihre Einkäufe, damit sie den weiten Weg während der Woche nicht mehr machen mußten. Bald kamen die Bittage. Alle Schüler mit den Lehrern und viele Leute gingen drei Tage bei den Prozessionen mit, immer in eine andere Pfarrei. Morgens um halb sieben machte man sich unter Glockengeläute mit Kirchenfahnen auf den Weg, und gegen Mittag erreichte man wieder den Ausgangspunkt. So kamen wir in die Hirschegger und Mittelberger Kirche, wo alles anders war als bei uns in Riezlern. Den Kirchengesang fand ich schaurig, da ich davon nichts verstand. Hatten wir in dem betreffenden Ort Verwandte, so wurde man von ihnen bewirtet, ansonsten ging man in der Pause in ein Gasthaus.

Ich war noch ziemlich klein, und da wir in Hirschegg keine Angehörigen hatten, ging meine Schwester mit vielen andern Leuten zum Gasthof Kreuz. Ich lief ihr hinterher und begab mich auch in die Gaststube. Da alle Limonade bestellten, schloß ich mich an, obwohl ich keinen Pfennig in der Tasche hatte. Noch heute sehe ich das entsetzte Gesicht meiner Schwester, als es ans Zahlen ging. Sie hatte mit mir ja nicht gerechnet, natürlich zu wenig Geld dabei und wurde sehr verlegen. Schnell machte ich mich aus dem Staub, aber sie erwischte mich noch und schmierte mir ein paar Heftige. Wer bezahlt hat, weiß ich heute noch nicht.

Da am Sonntag abend in unserer Kirche keine Maiandacht war, mußten wir diese in der Unterwestegger Kapelle besuchen. Der Weg dorthin war ziemlich weit, und ich hatte einmal das Glück, daß mich ein älterer Schüler auf seinem Fahrrad mit zurück nach Riezlern nahm. Ich war sehr froh, den langen Weg nicht mehr gehen zu müssen und genoß die Fahrt auf der Fahrradstange, obwohl das verboten war. Fast hätten wir das Ziel glimpflich erreicht, doch ich brachte meinen Fuß in die Speichen, und wir stürzten im hohen Bogen über den Zaun, gerade vor ein Wegkreuz. Ich fand, das sei ein schlechtes Omen und glaubte, der Fingerzeig käme vom Himmel und die gerechte Strafe wäre uns auf dem Fuße gefolgt. Wir brauchten eine ganze Weile, um wieder auf die Füße zu kommen, unsere Knochen und das Fahrrad waren demoliert. Inzwischen trafen die andern ein, sahen die Bescherung und meldeten meiner Mutter brühwarm die Panne, und der Vater empfing mich zu Hause mit dem „Ochsenfiesel“ (ein dicker Strick, mit dem man gezüchtigt wurde).

 

D'r Bullä-Ma.

Mit dem „Bullä-Ma“ konnte man mir jahrelang große Angst einflößen. Komischerweise wähnte ich ihn nur im Hause, im Freien existierte er für mich nicht. Am meisten fürchtete ich mich vor ihm, wenn ich ins Bett wollte, da mußte ich im Dunkeln über eine Treppe hinauf und glaubte, er würde mich packen. Ich bekam ihn jedoch nie zu Gesicht, und als ich ein paar Jahre älter geworden war, traute ich der Sache nicht mehr ganz. Gab es ihn wirklich? Wenn ja, mußte ich ihn herausfordern können. Ich schätzte, wenn ich mir ein paar verbotene Dinger leisten würde, müßte er, wenn es ihn gab, mich dafür bestrafen. Mit den Sünden begann ich am Sonntag während der Frühmesse. Anstatt die Hostie andächtig im Mund zergehen zu lassen, biß ich mit Fleiß lustig drauf los. Es fiel mir zu spät ein, daß die „Bäs Marie“ (eine Schwester meines Vaters), die eine alte Jungfer war, mir erzählt hatte, daß man eine schwarze Zunge bekäme, wenn man die Hostie zerbeißen würde. Nach der Kirche rannte ich schleunigst nach Hause und streckte mir im Spiegel die Zunge heraus, um sie anzuschauen. Es war aber nichts damit passiert, und wahrscheinlich war die Tante falscher Meinung. Als nächstes nahm ich mir vor, den Hauptgottesdienst zu schwänzen. Dazu versteckte ich mich im „Schöpfle“ (Schuppen) beim Bienenhaus und wartete, bis die andern weg waren. Plötzlich kam jedoch mein Vater vorbei, und ich sah durch die Ritzen, daß er direkt auf mich zukam. Vor Schreck erstarrte ich fast zur Salzsäule und hielt den Atem an, schon glaubte ich, er würde mich entdecken. Er sah jedoch nur zu seinen Bienen und lief nach einer Weile nichtsahnend weg, sodaß ich wieder aufatmen konnte. Bald darauf läutete die Glocke die „Wandlung“ , wo ich ein Kreuzzeichen zu machen und ein Gebet zu verrichten hatte. Um das Maß voll zu bekommen, unterließ ich das heute auch. Allmählich wurde mir langweilig, aber da war die Messe aus, und die Leute kamen aus der Kirche. Ich mischte mich unter die andern und tat, als ob nichts gewesen wäre. Das Blut erstarrte in mir, als meine Schwester sagte, sie hätte mich nicht in der Kirche gesehen. Mein Glück war, daß alle Mädchen von hinten gleich aussahen, weil sie ihre Zöpfe wie ich um den Kopf gewunden hatten. Da war meine Schwester der Meinung, mich übersehen zu haben und niemand bemerkte mein Vergehen. Gespannt wartete ich auf den Abend. Zweimal schlich ich die Treppe hinauf, aber trotz aller Übeltaten packte mich der „Bullä Ma“ nicht beim Haar, und daher wußte ich, daß ich dem Spuk endlich ein Ende gemacht hatte.

Da stand mir aber noch die nächste Beichte, wo ich dem Pfarrer das Kirchenschwänzen und das Hostiezerbeißen sagen mußte, im Raum. Daß er diese schwerwiegenden Verstöße verurteilen würde, war klar, und der Gang fiel mir schwer. Aber es geschah ein Wunder, denn ich bekam von ihm nur die gewohnten zwei Vaterunser zur Buße auf; er mußte eingeschlafen sein und mein Geständnis überhört haben, denn ich hatte mindestens mit einem Rosenkranz Buße gerechnet.

 

Botengänge.

Da wir als erste im Dorf einen Telefonanschluß hatten, wurden wir verpflichtet, anderen Leuten Gespräche zu übermitteln oder sie herbeizuholen. Öfters mußte ich solche Botengänge machen. „Adolfä Max im Loch“ war zu dieser Zeit Vorsteher (Bürgermeister) vom Tal, deshalb gab es für ihn viele Telefonberichte. Zum Glück führte dort hinunter ein samtweiches Wiesenweglein, das ich schnell durchlaufen konnte. Ich blieb solange bei ihm in der Kanzlei stehen, bis er endlich fünf Pfennige für den Botengang herausrückte, wozu er sich anscheinend überwinden mußte. Oder ich mußte dem alten kleinen Schuhmacher Siegfriedle, der im Dachgeschoß eines Bauernhauses im unteren Dorf wohnte, Schuhe zum Flicken bringen. Die Werkstatt und der Wohnraum waren eins, es roch bei ihm zugleich nach Leder und nach Küche; er trug in seinen Ohrläppchen goldene Plättchen, wie es heute Mode ist. Ich unterhielt mich gerne mit ihm und fand seine große Unordnung so gemütlich, daß ich mich mit Gewalt davon trennen mußte, denn allzulange durfte ich nicht ausbleiben.

 

Der Konsum und meine Eltern.

Meine Eltern betrieben die Riezler Filiale des Kleinwalsertaler Konsumvereins. In unserm Laden gab es alles, was die Leute für sich und das Vieh benötigten: Lebensmittel, Futtermittel, Tabakwaren, Wolle, Schnürsenkel, Krawatten, Korrespondenz- und Ansichtskarten, Strapsgürtel, Gummiband, Stoffe, Petroleum, Kautabak, Waschmittel, Geschirr und noch vieles mehr. Im Sommer sogar Tomaten und Äpfel, denn die „Frachter“ (Spediteure) hatten zur Beförderung schon die ersten Lastwagen. Noch heute weiß ich, an welchem Platz die großen, roten Kaffeebüchsen standen und daß ein Pfund davon nur 2,60 RM, oder die bessere Qualität 3,— RM (Reichsmark) gekostet hat. Es gab viele Schubladen, und der Inhalt war außen auf einer Etikette beschrieben. Unerklärlich war mir die Bezeichnung BÜSTENHALTER. Da ich nicht wußte, was das war, meinte ich lange, es hieße – BÜRSTENHALTER und glaubte, die Aufschrift hätte einen Schreibfehler. Bei den zwei Waagen waren blankgeputzte Messinggewichte in ein Kästchen sortiert, und für die Dezimalwaage, gab es schwere Eisengewichte. Plötzlich war eine große Nachfrage für Wasserkrüge, Waschlavors und Geschirr. Die Einheimischen vermieteten ihre Zimmer an Gäste und richteten sich für die „Fremden“ damit ein. So begann der Tourismus im Walsertal, und wer ein größeres Haus besaß, nützte die Gelegenheit zum Geldverdienen aus. Für uns war das ein gutes Geschäft; das Geschirr wurde in großen Kisten, in Holzwolle geliefert, und das Auspacken gab viel Arbeit, die mein Vater ungern tat. Er griff lieber zum Gewehr mit Rucksack und überließ die Arbeit den Weibern, darüber war meine Schwester sauer.

 

Der Vater.

Sonst tat er alles für uns und war dadurch sehr vielseitig, denn nur so konnte, er sechs Kinder aufziehen. Er war Jäger, Imker, Schnapsbrenner, Buchhalter, Geschäftsführer und hatte eine Werkstatt mit einer Drehbank, wo er die schönsten Spinnräder drechselte. Für die Mutter machte er Salzfäßchen, auf die er mit einem Brenneisen sinnige Sprüche einbrannte. An diese Drehbank wagte sich einmal mein Bruder, er wollte mir auch eine Holzvase drechseln. Dazu brauchte er mich, denn das elektrische Getriebe wagte er nicht einzuschalten. Wir versuchten es mit Fußantrieb und traten so fest, daß es uns immer in die Höhe spickte. Der Holzklotz begann Formen anzunehmen und wir glaubten schon, auch ein so schönes Kunststück wie der Vater angefertigt zu haben, aber wie die Drehbank stillstand, sahen wir uns enttäuscht an, denn es war nur ein unförmiges Gebilde übrig. Mein Vater hatte für sein weiteres Nebeneinkommen eine Kreissäge, mit der er den Leuten im Lohnschnitt das Holz sägte. Das Geräusch der Säge hörte man im ganzen Dorf.

Meine Eltern waren sehr fromm, sie gingen jeden Tag zur hl. Messe. Die Tisch- und Hausgebete verrichtete man täglich, und immer wurde noch ein Vaterunser für irgend eine arme Seele angehängt, sodaß mir die Gebete endlos vorkamen und ich ungeduldig dem „Amen“ entgegensah. Da ich mich vor dem Gang in die Kirche gerne drückte, kam es mir sehr gelegen, daß ich sonntags, statt in die Frühmesse zu gehen, „d's Morged“ (das Frühstück) für die Familie vorbereiten durfte. Zur damaligen Zeit trank man aus Sparsamkeitsgründen nur Malzkaffee, Spitzbohenen genannt, die man zuerst von Hand mahlen und dann im Wasser kurz aufkochen lassen mußte. Zur Geschmacksaufrichtung durfte man nur drei Bohnen dazugeben, was bisher von allen, die diese Arbeit ausführten, befolgt wurde. Ich pfiff auf diese Vorschrift, die der Sparsamkeit meines Vaters zuzuschreiben war und gab, um der Familie etwas Gutes zu tun und besseren Kaffee zu bekommen, mit Fleiß eine Hand voll Bohnen bei. Natürlich bekam dieser dadurch einen volleren Geschmack, worüber mich mein Vater unmutig rügte und sagte, ich sei recht „doschig“ (verschwenderisch). Er ließ mich jedoch weiterhin gewähren, und ich wußte warum: Wahrscheinlich hatte ich ihn überlistet, weil ihm der Kaffee auf diese Art auch besser schmeckte als bisher mit dem geringen Zusatzvon nur drei Bohnen.

 

Beim Zweiläuten.

Inzwischen war ich sieben Jahre alt und groß genug, meinen älteren Bruder beim „Zweiläuten“ abzulösen. (Während des Sommers wurde um zwei Uhr mit einer kleinen Glocke der Wettersegen geläutet) . Jeden Nachmittag, punkt zwei Uhr mußte ich das Seil des Engel-Glöckchens anziehen und bald schon brachte ich es fertig, ohne „genggä" zu läuten (gleichmäßige Glockenschläge). Man trug mir auf, solange zu läuten wie ein VATERUNSER dauert. Das befolgte ich gewissenhaft, zog am Strick und betete zugleich, was gar nicht einfach war. Wollte ich die Leute „fuchsen“ (ärgern), dannn bimmelte ich eine Viertelstunde lang drauf los, denn ich wußte, daß sie sich nicht mehr auskannten, was das zu bedeuten hätte.

Um in den Turm zu kommen, mußte man viele steile Treppen hinauf. Oft nahm ich andere Kinder mit, und wir sträunten überall umher. Ich zeigte ihnen das große elektrische Uhrwerk, das es mir angetan hatte, oder wir brachten die schweren Glocken durch Anstoßen zum Schwingen, sodaß der viertelstündliche Schlag ins Leere ging und dadurch das System versagte. Dadurch hörte man im Dorf nur ein komisches Geräusch, und der Pfarrer bemerkte, daß wir im Turm Unfug trieben. Er kam ganz wild herauf, jagte uns wütend davon und läutete selbst. An anderen Tagen kletterten wir, nachdem die Treppe zu Ende war, an den Balken hoch, um bei den Schallöchern hinunterschauen zu können. Da nisteten die Schwalben, und ich beobachtete, wie sie die Jungen emsig fütterten. Wenn man sich hinauslehnte,konnte man den Dorfplatz, die Leute und Bäume nur noch ganz kleinerblicken, sodaß mir vor Angst wegen der Tiefe ein Schaudern überden Rücken lief. Gut, daß meine Mutter nicht sehen konnte, was wir alles trieben.

 

Zirkus

Als ich noch sehr klein war, kam während eines Sommers eine große Sensation auf uns zu; in unser ruhiges Dorf zog ein Cirkus, mit vielen Tieren und Pferdewagen ein, was sehr aufregend für uns war. Auf dem Platz neben der Bäckerei war die Vorführung, die ich brennend gern angesehen hätte. Doch meine Eltern ließen uns nicht in die Nähe und bleuten uns ein, die Cirkusmenschen würden kleine Kinder mitnehmen. Heute weiß ich, daß sie auf diese Weise für uns das Eintrittsgeld gespart haben. Man ließ mich abends nur vom oberen Nachbarhaus aus zuschauen, wo ich außer dem Seiltänzer mit der langen Stange und den Pferden, die im Kreis herumliefen, nichts sehen konnte, da der Platz vom Geschehen zu weit entfernt war. Ich fand es trotzdem sehr aufregend und hatte das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Noch tagelang probierten wir, über schmale Zaunbretter zu balancieren, bewältigten jedoch nur wenige Meter und landeten unangenehm auf dem harten Boden.

Dafür durfte ich, als ein Karussell hier war, mit auf den Rummelpatz. Als ich bemerkte, daß man auf den schönen Tierfiguren im Kreis herum fahren kann, ließ ich mich nicht mehr davon abbringen. Sobald mich meine Eltern mit nach Hause nehmen wollten, schrie ich wie am Spieß, sodaß sie gezwungen waren, mich den ganzen Nachmittag herumkreisen zu lassen, das nützte ich auf diese Art weidlich aus. Leider bot sich mir nur einmal das schöne Vergnügen, denn danach kam nie mehr ein Karusell in unser Dorf.

 

Der Jägersmann und der Waldi.

Sobald der Däddä auf das Barometer klopfte, zu Gewehr und Rucksack griff, wedelte und rannte der Waldi wie verrückt umher. Da wußten wir, daß sich der Vater auf die Jagd machte. Er nahm den großen Operngucker (das Fernglas) mit und überließ uns das Spektive, (ein ausziehbares Fernrohr) damit wir die Jagdhütte in seinem Revier beobachten konnten. Erlegte er ein Tier, wurde an einer vereinbarten Stelle an der Hütte ein weißes Tuch ausgehängt. Daraus ersahen wir, ob er eine Gemse oder gar einen Hirsch geschossen hatte, und wir mußten ihm, je nachdem, für den Abtransport die dazu nötigen Träger besorgen und hinaufschicken. Er selbst blieb oft 14 Tage in seinem Revier.

Daß ein so eingefleischter Jägersmann wie er abergläubisch sein konnte, gab es auch. Wollte er auf die Jagd und es lief ihm die alte Nachbarin Kunigunde oder eine schwarze Katze über den Weg, so machte er schnurstracks kehrt und bildete sich ein, dadurch wäre sein Weidmannsglück verhext. Für einen solchen Rückzieher hatte am wenigsten unser Waldi Verständnis. Dieser Jagdhund war ein besonderes Tier. Er hatte einen Erzfeind, den Kaminkehrer. Ging dieser durch das Dorf und, der Hund schlief hinter dem Ofen, hörte man plötzlich ein heftiges, wütendes Knurren. Der Waldi war so feinfühlig, daß er den schwarzen Mann schon von dort aus wittern konnte. Anscheinend war ihm im Gedächtnis geblieben, daß ihn dieser einmal mit dem Besen gefoppt hatte. An seinem Ruheplatz mußte Ordnung sein, war der Schlafsack staubig oder nicht aufgeschüttelt, zog er denselben hinter dem Ofen hervor und zwang uns, ihm sein Lager ordentlich herzurichten. Hatte ein Jäger ein Stück Wild angeschossen und dieses war geflüchtet, so nahm er die Fährte noch nach Regentagen auf, und deshalb wurde der Vater öfters mit dem Waldi, der ein sogenannter Schweißhund war, zu Hilfe geholt.

 

„Holder“, ein köstliches Getränk.

Wenn im Juni der Holunder blühte, machten meine Eltern ein köstliches Getränk. Man gab Blüten, Zucker und Zitrone in einen Eimer mit Wasser und ließ dies ca 10 Tage offen stehen. Dann füllte man den Ansatz in Flaschen. In 14 Tagen bildete sich im Getränk Kohlensäure, und man öffnete nur, wenn es sehr heiß war so eine Flasche „Holder“, die redlich aufgeteilt wurde. Das gab für jeden nur einen größeren Schluck, und ich hätte gerne mehr davon gehabt. Da es noch keine Verschlußflaschen gab, trieb die Kohlensäure manchmal die Korken heraus, und ich paßte sehnsüchtig auf einen Knall im Keller. Schleunigst rannte ich hinunter, um das köstliche Getränk noch zu erwischen, bevor es weggesprudelt war, und so kam ich außertourlich zu dem ersehnten Genuß.

 

Im Sommer.

In dieser Zeit begannen die Bauern mit der Heuernte. Am Abend war von überall her Dengelklang zu hören, und wenn morgens in aller Frühe das Gras vor unserem Haus gemäht wurde, hörte ich das Rauschen des Schnitters. Einmal probierte mein Bruder das Mähen selbst, aber ich stand ihm im Wege, sodaß er mir in den Fuß mähte. Das war eine Aufregung, aber zufällig war mein Onkel, der Arzt war, bei uns, und er flickte meinen Fuß wieder zusammen. In jeder Familie mit mehreren Kindern mußten die Großen die Kleineren „gohmä" (hüten), was ich sehr ungern tat. An einem warmen Sommertag setzte man mich mit meinem kleinen Bruder auf eine Decke in die abgemähte Wiese unter den Apfelbaum zum Spielen. Mir wurde aufgetragen, ihn zu behüten. Die Nachbarskinder kamen hinzu, und ich vergaß meine mir auferlegte Pflicht. Erst durch einen Aufschrei eines Nachbarjungen sah ich, daß mein Bruder in den Dorfbrunnen gefallen und dem Ertrinken nahe war. Einer der größeren Buben zog ihn heraus, andere Leute rannten hinzu und brachten ihn gerade noch ins Leben zurück. Mein Vater versohlte mir zur Strafe den Hintern und sperrte mich in den dunkeln, feuchten Keller. Später war ich froh, daß mir mein Bruder in den Brunnen gefallen war, denn ich mußte danach nie mehr Kindsmagd machen.

Als ich noch ganz klein war, gab mir jemand zur Unterhaltung ein Gläschen Seifenlauge und zeigte mir, wie man mit Löwenzahnstengeln Kugeln blasen konnte. Das war ein herrliches Vergnügen, obwohl der Speichel im Mund durch die Milch der „Schwiemaiä-Stängl“ bitter schmeckte. Den vielfarbigen Seifenblasen zuliebe nahm ich das gerne in Kauf, bedauerte jedoch, daß sie mir, wenn sie am schönsten waren, zerplatzten.

Zufällig kam ich einmal im Zwerwald in ein Bauernhaus, wo auch ein kleines Mädchen wohnte. Da stand auf dem Stiegenpodest ein ganz kleiner Regenschirm, der mir gewaltig in die Augen stach. Zu gerne hätte ich einen solchen gehabt, aber ich bekam trotz Betteln keinen. Als ich wieder einmal dort war, nahm ich ihn einfach heimlich mit nach Hause, und meine Sehnsucht war erfüllt. Anscheinend hatte es die Mutter des Mädchens bemerkt, und sie forderte den Schirm wieder zurück. Da ich noch nicht verstand, daß Stehlen verboten war, wurde mir das erklärt, und in meinem ganzen Leben vergriff ich mich nicht mehr an fremdem Eigentum. Wurde während des Sommers der Honig geschleudert, wollten wir alle mithelfen. Mein Vater brachte die von ihm selbst angefertigte Schleuder in die Stube und stellte die Waben zum Entdeckein bereit. Sobald die ersten in der Schleuder versenkt wurden, brachte man diese durch Antrieb in Bewegung. Zuerst stritten wir uns um die Arbeit, doch schon bald wollte keiner mehr etwas davon wissen, denn es mußte stundenlang geschleudert werden. Der Honig floß goldgrün in den Kübel, und täglich kam er frisch auf den Tisch. Der jüngere Bruder Titus lernte das Essen nur mit Honigbeigabe, sonst würgten ihn Erstickungsanfälle. Man mußte ihm nach jedem Stückchen Brot, einen Schub Honig nachgeben, damit der verhängte Bissen hinunterrutschte, denn er schrie verzweifelt: „Hong, Hong, Hong!"

Unser Gemüsegarten war oberhalb des Hauses und enthielt Salat, Spinat, gelbe Rüben, Rettiche, Schnittlauch, Johannisbeeren und die größte Köstlichkeit, Erdbeeren.Diese, waren nur für die Mutter bestimmt. Damit wir uns daran nicht vergreifen konnten, pflanzte sie der Vater vor das Bienenhaus. Trotzdem probierte ich, welche zu stibitzen. Ich faßte die extra großen, reifen Früchte ins Auge, und wenn mich die Gelüste übermannten, nahm ich einen Anlauf und rannte mit ausgestrecktem Arm darauf los, um sie abzureißen. Meistens verfing sich sofort eine Biene in meinen Haaren und weitere verfolgten mich wild auf der Flucht. So suchte ich schleunigst das Weite, und statt des Genusses, heimste ich einen Bienenstich ein, der dazu noch sehr schmerzhaft war.

Ein ganz unbekanntes herrliches Vergnügen wurde uns durch das neuerbaute Schwimmbad zuteil. Das war eine Attraktion für Gäste und Einheimische. Um dort hineinzukommen, erbettelten wir von den Eltern das Eintrittsgeld und planschten hocherfreut in dem 14 Grad kalten Wasser umher. Da ich noch nicht schwimmen konnte, legte ich mich in einen aufgeblasenen Autoreifen und trieb im tiefen Bereich umher. Die andern Mädchen hielten ein Wettschwimmen ab und eine stieß mich unversehens an. Ich rutsche in der Mitte durch, es machte glugg, glugg, glugg, und ich sank auf den Boden des Beckens. Da aber schon ein Bademeister zur Beaufsichtigung anwesend war, zog er mich, blau und nach Luft schnappend, aus dem Wasser. Das war der Anlaß, daß ich gleich darauf das Schwimmen lernte. Ich erzählte schon, daß ich bis zu meinem elften Lebensjahr im Sommer täglich von der Alpe die Milch holen mußte. Als ich von meinen jüngeren Brüdern davon abgelöst wurde, gab es andere Arbeiten für mich.

Am liebsten ging ich mit zum „Berghaibed“ (ins Bergheu). Am Vormittag stieg ich mit dem Mittagessen hinauf zum Mahd, das der Vetter Lebold (Leopold) in der Früh schon gemäht hatte und kam gerade recht „zom cherä" (zum Heu wenden). Er verbot mir, in das Heu zu stehen, weil es dann im Rutsch mit mir bergab gehen und sehr gefährlich werden konnte, da das Gelände im „Chalbergehrä ond i da Schluachtä" (Walser Grasberge) sehr steil war. Mein Onkel trug bei dieser Arbeit Steigeisen, ich war barfuß. Nach dem Wenden des Heues wurde Mittag gemacht; in meinem Rucksack befanden sich frische Waffeln, die meine Mutter morgens noch gebacken hatte und für den Durst trank man verdünnten Wein. Gegen Nachmittag gab es eine deftige Brotzeit mit Käs und Speck. Schon deswegen war für mich das Bergheuen so schön.

Ab Mitte August wurden die Heidelbeeren reif. Da gingen wir mit großen Eimern und voll Erwartungen auf den Weg. Bis zum Beerplatz „uff d'Mooseggä", betrug die Wegzeit zwei Stunden. Das Wichtigste war mir die mitgegebene Brotzeit, und am liebsten hätte ich sie gleich verschlungen, aber das Gewissen drückte, und ich machte mich ans Beeren pflücken. Dabei war ich sehr unstet und glaubte, nebenan wäre es ausgiebiger, das führte dazu, daß ich nie viel zusammenbrachte. Eine alte Frau, die jeden Tag Beeren holte, um sie zu verkaufen, hatte schon mittags ihren „Rüggchrattä" (Rückentragkorb) fast voll und stellte ihn bei einer Tanne ab. Da ich immer drum herumschlich und gerne ein paar Scheffel in meine Kanne geschöpft hätte, paßte sie wie ein Luchs auf ihren Korb auf, und mir gelang das Vorhaben nicht. Abends ging ich dann mit einem flauen Gefühl im Bauch heimwärts, denn ich konnte die in mich gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, weil mein Eimer nur knapp halb voll geworden war. Trotzdem reichte der Ertrag für mehrere Mahlzeiten aus, wodurch für die Familie zur Abwechslung ein Beermus gekocht wurde, was alle erfreute und auch mich zufrieden machte.

 

Im Herbst.

Am „Mathestag“, wurde das gesamte Vieh von den Alpen abgetrieben. Von morgens bis spätnachmittags hörte man das Gebimmel, Klingen und Dröhnen der „Schälla“ (Glocken) ond „Bommerä" (große, rundliche Glocken). Besonders eindrucksvoll war der Abtrieb von „Bärgund und Dellerä" (zwei große Almen, bei Mittelberg), von dort kamen jeweils 250 Stück. Ab der letzten Alpe mußte das Vieh von oberhalb Baad, bis nach Rubi (ein Ort bei Oberstdorf), getrieben werden. Hunderte von Metern war die Straße voller Kühe, und weil damals noch kein Autoverkehr war, behinderte das niemanden. Wenn den Hirten während des Sommers kein Vieh verunglückt war, führten sie eine „Maiachua“ (eine bekränzte Kuh) voran, in deren Blumenkranz sich ein Spiegel befand, der schon von weitem hell glänzte. So kamen manchesmal bis zu tausend Stück Vieh durch das Dorf, die wir gebührend empfingen.

Einige Tage später war Viehmarkt und Prämierung. Bei meinem Onkel und vielen anderen Bauern hingen über der Stalltür ovale Täfeichen, worauf römische Ziffern waren. I II III ergab die Güteklasse der Kühe, und man war sehr stolz darauf. Nach dem Alpabtrieb brauchte man noch einen halben Tag, um die Schweine zu holen. Mit denselben durfte man sich nur langsam bergab bewegen, damit von ihnen durch den Streß nicht zuviel Gewicht verloren ging; manche Besitzer brachten sie sogar auf einem Schlitten zurück. Auch wir sömmerten für unsere Familie ein Schwein auf der Alpe und mit dem Ruf:„Heß, heß, heß" wanderten wir langsam dem Tale zu, wo es im Herbst einige Wochen im Nachbarsstall gemästet wurde. Meine Schwester und ich fütterten das Schwein täglich zweimal und ließen es danach im Freien herumspringen. Einmal setzte ich mich darauf, und siehe, es warf mich nicht ab, sondern fegte ein paar Runden mit mir umher. Anscheinend hatte es auch Spaß daran, denn noch oft wiederholte sich das Vergnügen, und ich weiß bestimmt, daß ich am Schlachttag geweint habe und keinen Bissen davon essen konnte.

Nachdem die Schule wieder begonnen hatte, bekam mein Vater sackweise Enzianwurzeln, die wir Kinder von der Erde säubern mußten. Das war eine nicht enden wollende Beschäftigung. Trotz Waschen und Bürsten haftete der Bitterstoff der Wurzeln so sehr an den Händen, daß jedes von uns angerührte Stückchen Brot gallenbitter schmeckte, aber wer fragte uns danach? Waren die Wurzeln gemahlen, gab man die Maische zum Gären in große Fässer, und Wochen später brannte mein Vater daraus "Änzioner“ (Enzianschnaps). Die Zollwache kontrollierte strengstens, und öfters weckten ihn die Zöllner mitten in der Nacht, um sich zu überzeugen, ob er nicht einen Schwarzbrand eingeschoben hätte. Der Geruch des warmen Trebers, der haufenweise auf die verschneiten Felder geschüttet wurde, verbreitete sich im ganzen Dorf.

Im Herbst mußte das Holz für den Winter, nachdem es kleingehackt worden war, in den Dachboden geschafft werden. An einen Flaschenzug hängte man große Körbe, die von uns Kindern aufgefüllt und nach oben gezogen werden mußten. Da hatten wir nach der Schule einige Tage damit zu tun, und unsere Freizeit war wie immer mit Arbeit ausgefüllt.

So gut wie möglich drückte ich mich davor, und das beste war, wenn ich nach der Schule nicht gleich nach Hause ging. Noch bevor die Holzäpfel reif waren, zogen wir mit langen Stangen los, um sie vom Baum herunterzuschlagen und machten uns mit prall gefüllten Schürzentaschen davon, bevor uns der Besitzer beim Stehlen der Äpfel erwischen konnte.

Einmal benützte ich sie als Tauschobjekt. Ein Bub überredete mich und bot mir dafür Kastanien an. Er behauptete, diese wären noch viel besser als Äpfel. Als ich davon probierte, merkte ich, daß er mich drangekriegt hatte, denn sie waren steinhart und nicht eßbar. Da war ich wütend auf meine Dummheit und schwor ihm Rache, aber er hatte sich schon aus dem Staub gemacht, und ich konnte ihn nirgends mehr erblicken. Tagelang paßte ich ihn ab und wurde endlich seiner habhaft, nachdem er sich wieder unter die Leute gewagt hatte. Als Denkzettel für den Reinfall, den er mir angetan hatte, verschlug ich ihm elendiglich den „Grind“. (Kopf)

 

Winterszeit.

Weil im Winter jedes Jahr mehr „Fremde“ das Tal besuchten, gründete man eine Gäste-Skischule. Am Idiotenhang wurde geübt, und dort zeigte man ihnen die Kunst des Skilaufens. Um zu sehen, wie das gemacht wird, hielt ich mich stundenlang in ihrer Nähe auf. Sie besaßen viel modernere Bretter als ich, denn die Meinigen hatte der Vater selbst angefertigt. Die erste Skikleidung bestand aus einem Kleidchen mit Schürze und beißigen Wollstrümpfen. Als Bindung diente ein Lederriemen, der sich dauernd lockerte, sodaß sich meine Skier des öfteren selbständig machten. Trotzdem konnte ich mit meiner Fahrweise bald angeben und tat dementsprechend gescheit vor den Leuten, obwohl ich sicher lächerlich ausgesehen habe. Wenn der Unterricht beendet war, riefen alle Schüler ein dreifaches Ski-heil, Ski-heil, Ski-heil und Brettl-hupf, Brettlhupf, Brettl-hupf! Da der Skilehrer Berti hieß, glaubte ich sie falsch verstanden zu haben und meinte, der Berti werde aufgefordert zu hüpfen, -darauf wartete ich voller Spannung. Zu meiner Enttäuschung verhielt sich dieser jedoch ganz ruhig und blieb ohne einen Mukser zu machen auf dem Boden stehen. Es gab sogar schon eine Skilehrerin, was für die damalige Zeit noch etwas Seltsames war. Da sie eine Knickerbocker Hose trug, fand ich sie obszön und ärgerte mich über sie. Ich verfolgte sie mit meinem Spott und machte ihr mit Fleiß alles nach, was sie den Gästen vormachte. Fuhr sie einen Bogen und erklärte diesen, machte ich auch einen und rief wie sie, mit heller Stimme auf hochdeutsch:" Aufstemmen, hoch und wieder runter!" Die Leute hatten ihren Spaß damit, doch sie beschwerte sich bei meinen Eltern über mich. Diese waren böse mit mir und der Meinung, ich hätte damit dem Geschäft geschadet. Sie verboten mir zur Strafe, eine Weile das Skilaufen. „Ausrichten“ (veräppeln) durfte ich sie auch nicht mehr.

Zu dieser Zeit waren die Straßen noch ganz eingeschneit, man konnte darauf ski- und schlittenfahren. Oft hingen wir damit unerlaubterweise an ein Fuhrwerk dran, aber wenn das der Roßknecht bemerkte, verjagte er uns mit heftigen Flüchen.

Wenn der Lehrer nach langem Betteln mit uns auf Skitour ging, konnten wir das erste Stück, bis zur Breitachbrücke, auf der Straße fahren. Lange und beschwerlich war der Weg bis zur Schwarzwasserhütte oder auf das Hahnenköpfle mit unseren kurzen Beinen. Schwierig die Abfahrt über steile Hänge, verharschte Spuren und unbequem die steifgefrorenen Felle um den Bauch und der Rucksack auf dem Buckel. Es blieb nicht aus, daß ich des öfteren mit dem kalten Schnee Bekanntschaft machen mußte. Steinmüde, aber glücklich, erreichten wir am Abend das Dorf und stürzten uns auf das eiskalte Wasser vom fast zugefrorenen Gemeindebrunnen, um den Durst zu löschen. Der Lehrer verbot uns jedoch das Trinken genau so streng wie das Schneeessen während der Tour.

 

D's Walserhäß und die Mutter.

Im Frühjahr, wenn es an der inneren Hauswand warm wurde, stützte meine Mutter das Juppenbrett mit der frisch gefältelten „Juppe“ (das Überkleid der Walsertracht) zum Trocknen hin. Es stand einige Wochen an seinem Platz, denn das Aufrichten vom „Haß" (Kleidung schön herrichten) war ihr sehr wichtig. Sie machte sich damit viel Arbeit, die enorm Zeit in Anspruch nahm. Damit wahrte sie das althergebrachte Prestige ihrer Mutter, die Trachtennäherin war und dadurch auf gepflegte Kleidung großen Wert legte. Alles, was sie anzog, sah sehr schön aus. Ruhe gönnte sie sich selten, ihre einzige Abwechslung bestand aus einem alljährlichen Besuch bei ihren Brüdern im „Ländle“ (Land Vorarlberg), wo der eine Hw.Pfarrer und der andere Gemeindearzt in einem Ort im Bregenzerwald war. Einmal durfte ich mitfahren, und sie nähte mir für die Reise extra ein kleines Walserhäß (Tracht), worin ich von jedem bewundert wurde.

 

Der Maiausflug.

Ein schönes Frühlingserlebnis war der Maiausflug. Dieser sollte mit den Schülern von Riezlern und Hirschegg gemeinsam zur Ifenhütte stattfinden. Schon am Vortag suchte mein älterer Bruder KampfWerkzeuge (Geiseln und Stöcke) zusammen, da ein Streit mit den Hirscheggern bevorstand. Tatsächlich gab es eine elende „Haarerei“ (eine Rauferei), sodaß die Lehrer total ratlos, und ihr Schlichten zwecklos war. Noch heute behauptet mein Mann, die Hirschegger wären den Riezlern überlegen gewesen. Ganz glaube ich ihm das nicht, denn mein „Hänsle“ ist halt immer noch ein Hirschegger!

 

Meine Brüder.

Die Lust am Schießen übertrug sich von meinem Vater auf meine Brüder. Sie hatten ein Luftgewehr, mit dem sie allerlei Unfug trieben. Da Munition zu gefährlich war, schössen sie mit gespeichelten Papierknollchen, besonders gerne auf Fliegen. So mußte der Porzellan- Lampenschirm in der Stube dranglauben, und da einmal eine Fliege auf mir saß, schössen sie mir ein Loch in das Kleid und in den Rücken, um dieselbe zu erlegen. Es fitzte mich sehr und ich schrie unnötig fest, sodaß meine Mutter ganz entsetzt war. Von da ab durften sie nur noch auf streunende Hunde und Katzen schießen, die sie Gott sei Dank niemals trafen. Da meine Brüder Ministranten waren, spielten wir miteinander Meßopfer. Weil mir als Mädchen das Ministrieren nicht erlaubt war, lernte ich die lateinischen Gebete trotzdem auswendig und haspelte sie ersatzweise vor unserem Laubsägealtar herunter.Obladen und Himbeerwasser waren unsere Himmelspeisen, die wir in Mengen verzehrten. Natürlich beneidete ich den Pfarrer um das tägliche Brot und den echten Wein, weil er das Spiel alle Tage machen durfte.

 

Der Studiosus.

Meine Eltern waren vom Ehrgeiz besessen, einen Studierten, – aus dem sogar ein Pfarrer werden sollte, in der Familie zu haben. Davon war mein ältester Bruder betroffen; sie steckten ihn anfangs in ein Gymnasium und später zum Studium in ein Priesterseminar. Da er von dort aus nur zu Weihnachten und über die Sommerzeit in Ferien kommen durfte, war er selten daheim und galt bei allen dementsprechend viel.

Durch seine gute Begabung konnte er zweimal einen Klassensprung machen, was meinen Eltern sehr gelegen kam. Sie sparten sich dadurch die Kosten beider Jahre. In Mathematik war mein Bruder ein kleines Genie, denn er löste die Aufgaben schneller als seine Professoren. Deshalb wurde er von allen bewundert, und der diesbezügliche gute Ruf drang bis in unsere Familie vor. Zu gerne wäre ich auch so gescheit gewesen wie er, aber es fehlte mir der nötige Grips, und da das Lernen mit Anstrengung verbunden war, entschloß ich mich für das Angenehmere, ich blieb lieber faul und dumm.

Schon Wochen vor der Abreise war man mit seinen Sachen beschäftigt, denn man zeichnete die Kleidung und seine Wäsche mit der vom Internat mitgeteilten Nummer. Die fertigen Stücke legte man alle in einen dafür hergerichteten Holzkoffer, der irgendwie an seinen Bestimmungsort geschickt wurde.

Am Tage des Abschieds war meine Mutter traurig und weinte, worüber ich ratlos war, denn das sah ich sonst nie bei ihr. Ich nahm mir vor, extra brav zu sein, damit sie wieder fröhlich werden konnte. Das fiel mir jedoch zu schwer, und sofort bereute ich meinen voreiligen Entschluß. Wir andern Kinder waren durch die finanzielle Belastung, die die Kosten des Studiums an meine Eltern stellte, in keiner Weise benachteiligt. Sie sorgten mit all ihrer Kraft für uns und waren natürlich sehr enttäuscht, als sich herausstellte, daß mein Bruder sich nicht zum Priester berufen fühlte. Doch sie akzeptierten seinen Entschluß und legten ihm diesbezüglich keinen Zwang auf. In früheren Zeiten mußte sich mancher junge Mann dem Willen der Eltern beugen und das Kreuz auf sich nehmen.

 

Berufswünsche.

Allmählich kam ich in das Alter, wo schon über meine Zukunft nachgedacht wurde. Am liebsten wäre ich Lehrerin geworden, denn die Freundin meiner Schwester wurde in einem Lehrerseminar in Tirol für diesen Beruf ausgebildet und ihr eiferte ich nach. Meine Eltern erwägten diese Ausbildung ernsthaft für mich, aber nachdem damals in Österreich die Lehrerinnen zum Ledigbleiben verpflichtet wurden und ihr Beruf durch eine Heirat keinen Wert mehr hatte, traute man mir das Ledigbleiben nicht zu und schickte mich weiter in die Volksschule. Wenn dann meine Mutter sagte:" Ledig g„storbä ischt au net verreckt“,(das heißt soviel, wie ledig bleiben ist auch vernünftig) dann konnte ich verstehen, daß mir mein Wunsch nicht erfüllt worden war. Heute denk ich, daß durch ihren Entschluß den Kindern viel erspart geblieben ist.

 

Das Rauchen.

Das Geschäftsgebahren des Konsumvereins schrieb vor, daß man die nicht verkäuflichen Waren aufheben mußte. Bei uns auf der oberen Bühne befanden sich viele solcher Ladenhüter, darunter Zigaretten mit Gold-Mundstück. Ich stahl einmal eine Packung und verführte meinen Bruder, in den Wald mitzugehen, um dieselben zu rauchen. Die Zigaretten waren alt und strohig und schmeckten noch scheußlicher als neue, aber das gaben wir uns solange nicht zu, bis uns schlecht wurde. Da warfen wir den Rest in den Zwerbach und hatten vom Rauchen unser Lebtag genug.

 

Ein makaberer Scherz.

Vor meinem Vater hatte ich großen Respekt, und trotzdem wurde ich einmal wie vom Teufel geritten. Ich erlaubte mir ihm gegenüber einen Unfug. Allabendlich hielt er sein Schläfchen auf dem Kanapee. Sowie er anfing zu schnarchen, zwickte ich ihm eine Wäscheklammer in seinen Schnurrbart. Meine Brüder schauten zu und hatten eine mords Gaudi. Plötzlich muß er im Schlaf etwas Unangenehmes gespürt haben, denn er verschüttelte sich und wollte die vermeintliche Fliege wegjagen. Dabei zupfte er an der Klammer und riß sich die Schnurrbarthaare aus, wovon er hellwach wurde. Er sprang wie von der Tarantel gestochen auf und gab mir für meine Frechheit ein paar Heftige zum „Grind“.

 

In der Schule.

Da der Lehrer fünf Jahrgänge in einem Schulzimmer unterrichtete, beschäftigte er uns zwischendurch mit Lehrstoffen der älteren Schüler. Wir bekamen deren Hefte und mußten daraus Arbeiten abschreiben. Meine Schulnachbarin und ich waren scharf darauf, jedesmal von einem andern Mitschüler das Heft zu bekommen, womöglich, eins von einem Klassenbesten mit guten Noten und schöner Schrift. Es ergab sich, daß wir zweimal dasselbe Heft erwischten, worüber wir sehr enttäuscht waren. Aus Trotz malten wir ein Männlein in das Heft und schrieben den Namen der Schülerin daneben. Dazu fabrizierten wir einen dicken „Batzen“ (Tintenklecks). Nach Rückgabe des Heftes dauerte es nicht lange, die Rosl zeigte auf und schnalzte mit dem Finger. Ich wußte gleich, was das zu bedeuten hatte und machte mich auf eine saftige Strafe gefaßt. Der Lehrer gab uns beiden wegen diesem Streich gleich eine elende Stutzbirne und ließ uns 2 Stunden nachsitzen.

 

Das Zitherspielen.

Schon als Kind war ich etwas musikalisch und durfte deshalb das Zitherspielen lernen. Ich bekam eine ganz kleine Zither, die ich heute noch habe und „Hartmasch Albin“ (Hartmann) wurde mein Musiklehrer. Er sollte mir die Kunst für die Bezahlung von 3,- RM pro Stunde beibringen. Obwohl ich merkte, daß diese Ausgabe meinen Eltern schwerfiel, verleidete mir das Üben bald, und ich sann darauf, wie dem wohl zu entrinnen sei. Den grandiosen Gedanken, die Zither einfach in die Breitach zu werfen, um dadurch dem Spielen entrinnen zu können, mußte ich leider aufgeben, als mir ausgerechnet das Christkind eine neue brachte. Das freute mich überhaupt nicht, und diesen Zustand konnte ich mir nicht einmal anmerken lassen.

Täglich mußte ich eine volle Stunde üben und in den Ferien sogar zwei. Um diese Zeit totzuschlagen, setzte ich mich lieber eine halbe Stunde davon auf die stinkende Toilette, was für meinen diesbezüglichen Fortschritt natürlich nicht förderlich war. Ein Genie bin ich dadurch nie geworden. Einen Vorgeschmack auf die Freuden, die das Beherrschen eines Instruments mit sich bringen, bekam ich erst, als eine andere Schülerin mit mir zusammen üben durfte. Einer ihrer Nachbarn, lernte uns zur Abwechslung lustige Schnaderhüpfein, was mir schon besser gefiel.

Wenn wir fleißig gespielt hatten, kochte ihre Mutter inzwischen für uns einen rosaroten Pudding, und da meine Freundin keine Geschwister hatte, mußte nicht geteilt werden, und wir durften ihn ganz allein aufessen. Ihr Vater war ein sehr gemütlicher Mann, und hie und da setzte er bei den Liedern, die wir spielten, mit seiner tiefen Baßstimme ein und sang mit. Seine Tochter nannte er nie bei ihrem Namen, sie war für ihn, als sie schon älter war, immer noch „d'Böppä" (die Puppe).

 

Feuer!

Große Angst hatte man vor Feuer! Mein Vater war schon ungut, wenn man nur den Ofen oder den Herd zu stark, erhitzte, denn dadurch ist manches Haus niedergebrannt. Jeden Abend überzeugte er sich, ob alles in Ordnung sei, nur dann konnte er ruhig schlafen. Passierte ein Brandunglück, läuteten die Glocken „Sturm“ (heute heult die Sirene), das hörte sich unheimlich an, besonders nachts, wenn man dazu den roten Feuerschein sehen konnte. Brach ein Brand mitten im Dorf aus, konnte er durch zusätzlichen Wind zu einer Feuersbrunst ausarten, die Holzhäuser brannten wie Zunder, und ganze Dörfer fielen zum Opfer. So vertrauten manche Leute auf den Feuer-Schutzpatron ST. Florian, den sie am Haus anbrachten, und einer schrieb daneben gar den Vers:" Heiliger St. Florian, beschütze uns und laß das Feuer drauß, zünd lieber an ein anderes Haus." Gott sei Dank war der heilige Florian kein Brandstifter.

 

Sterbebräuche.

Auch hier im Tal war ein Kommen und Gehen. Sobald wir durchs „Schiedeglüta“ (das Läuten der Totenglocken) vom Ableben eines Talbewohners erfuhren, mußten wir Schüler zum Beten in das Haus des Verstorbenen. Der Tote lag aufgebahrt in der Kammer, und in der Stube wurde den ganzen Tag für ihn gebetet. Einer der Nächst- Verwandten empfing die Leute am Eingang der Stube, und man sagte zu ihm „Trost dr Gott d's Laid“ (Gott soll ihn in seinem Leid trösten). Nach dem Beten von drei Rosenkränzen, ein Psalter genannt, las ein Anwesender in der Kammer die Allerheiligen Litanei. Allzugerne hätte ich diese einmal selbst vorgebetet, doch meine Lese- Kenntnisse reichten dazu nicht aus. Dabei wäre es mir bestimmt so ergangen wie einmal einer Erstklässlerin, die das Vorhaben gewagt und dabei so gestottert hat, daß alle Trauernden zum Lachen kamen.

Aus einem Erlebnis meiner Mutter erkannte ich, wie gerne die Menschen früher gelebt haben und wie sehr sie an ihrem Leben hingen.

Bei ihrer Firmpatin, „bi Kasemiereslesch Stasele“, machte sie einen Besuch am Krankenbett. Das Weiblein hatte das gesegnete Alter von über 80 Jahren erreicht und ahnte, daß es nun dem Ende zuging. Da sagte es zu meiner Mutter:" Was send dann scho diä 80 Jöhrle, -wännds no taused wäret." Sie hatte ein bescheidenes, aber anscheinend zufriedenes Leben hinter sich. Ob ihr der Ledigenstand so gut gefallen hat? Ich weiß nur noch, daß man manchem, der nicht verheiratet war, nachsagte:„Diä,- oder da, hed dr ledig 0-willä". Das Stasele muß denselben nicht gehabt haben, denn es wünschte sich wirklich, 1.000 Jahre alt zu werden, was ihr natürlich nicht beschieden war. Denn kurz darauf ist sie verstorben.

 

Der erste Arzt.

Der erste Arzt im Walsertal praktizierte und wohnte im Doktorhaus. Da er seine Patienten in weit auseinander liegenden Richtungen betreuen mußte, hielt er ein Pferd und erledigte den Weg hoch zu Roß. Später benützte er dazu einen Opel P4, womit er mir gleich zu Anfang das Leben gerettet hatte. Er war Helfer in allen Nöten, bei Geburten genauso wie bei Zahnweh.

Wieder einmal wollte ich den starken Mann spielen und ging zu ihm, um einen Zahn ziehen zu lassen, obwohl mir gar nichts weh tat. Er stellte einen defekten Stockzahn fest und machte sich daran, ihn zu entfernen. Ohne Spritze setzte er die Zange an, und ich war der Plage ausgesetzt. Ich schrie wie am Spieß und schlug um mich, sodaß er seine Frau zu Hilfe holen mußte. Die hielt meinen Mund auf, klemmte meinen Kopf ein und hielt die Arme so fest, daß ich mich nicht mehr wehren konnte. In meiner Not schrie ich noch viel lauter, und nachdem der Doktor die Zange gewechselt hatte, gelang ihm endlich die Entfernung des Zahnes. Um aus dem Haus zu kommen, mußte ich zurück durch das Wartezimmer. Da saß zum Glück nur ein Mann, der sagte jedoch ganz hämisch: „Mädle, – Du hast ja Deinen Kopf noch! „Trotz Schmerzen hätte ich mich vor lauter Scham lieber unsichtbar gemacht, denn ich glaubte, er würde allen seinen Bekannten von meinem Geschrei erzählen.

 

Die Zahnärztin.

Bald danach ließ sich in Riezlern eine Zahnärztin nieder. Mein kleinerer Bruder und ich sollten zu ihr in Behandlung gehen. Sie betätigte den Bohrer mit Fußantrieb, das hatte zur Folge, daß sie des öfteren abrutschte. Als ich die Tortur glimpflich hinter mir hatte, setzte ich mich zurück ins Vorzimmer, um auf meinen Bruder zu warten. Kaum hatte sie diesen unter ihren Fingern, klappte er vor lauter Angst bewußtlos zusammen und fiel vom Stuhl. Ganz verstört trug sie ihn heraus, legte ihn auf eine Bank und wartete, bis er nach einiger Zeit wieder zu sich kam. An diesem Tag konnte sie ihn nicht mehr behandeln und danach auch nie mehr, denn in der Folge war ein Zahnarzt für ihn ein rotes Tuch.

 

In Bödmen.

Um von einer schweren Krankheit zu genesen, kam die Tante aus Bödmen zu meiner Mutter, ihrer Schwester, nach Riezlern in Erholung. Dafür mußte ich in ihrem Haushalt ein wenig mithelfen. Arbeit gab es genug, denn sie hatten viele Zimmer und beherbergten schon damals eine Menge Gäste. Jeden Morgen brachte der Semmelbub genau abgezählt die Brötchen für das Frühstück. Da mich wieder einmal der Hunger und die Gelüste übermannten, stiebitzte ich zwei Stück davon und aß sie schnell heimlich auf. Trotz öfterem Nachzählen stellte der Mann meiner Tante den Fehlbestand fest. Er war außer sich und schimpfte fürchterlich, weil die Semmeln fehlten, die ihn bestimmt auch angemacht haben. Der Verdacht fiel auf alle Anwesendenden, hauptsächlich jedoch auf mich. Erst als man vom Laden nebenan die fehlenden besorgt hatte, legte sich der Sturm. Ich tat ganz verstellt und machte ein sehr unschuldiges Gesicht, so konnte er mir nichts nachweisen. Zu gerne hätte ich alles auf den Bäcker geschoben, aber der verzählte sich nie bei der Lieferung.

Endlich war die Tante wieder gesund und damit meine Mission in Bödmen beendet. Schnellstens machte ich mich auf den Weg zurück nach Riezlern, und ich glaube, daß mir jeder die Erleichterung schon von weitem ansehen konnte.

 

Das Fahrrad.

Langsam ging der Trott meiner Kindheit dahin. Größer geworden, versprach mir meine andere Tante ein Fahrrad, das ich jedoch aus Bregenz, selbst abholen mußte. Für mich ein Traum! Mit der Taxi-Linie fuhr ich dahin und blieb einige Tage zu Besuch. Die Leute dort waren sehr nobel und die gleichaltrigen Kinder recht eingebildet, was mir nicht paßte. Ich brannte darauf, das Fahrrad zu bekommen und es daheim zu haben. Eines Morgens war es soweit, und ich machte mich ganz allein auf den Weg BREGENZ – RIEZLERN. Die ungeteerte Straße war sehr holperig und der Hinterreifen des Rades hatte einen geflickten Mantel, wodurch es bei jeder Umdrehung einen Hopser machte. Mein Allerwertester war ganz verhopst, bis ich endlich zu Hause ankam. Alle andern beneideten mich um das Fahrrad, leider wurde es mir später gestohlen, und ich mußte wieder zu Fuß gehen.

 

Flugobjekte.

An einem herrlichen Sommertag war eine plötzliche Aufregung unter den älteren Leuten im Dorf. Alle schauten zum Himmel, viele davon mit Ferngläsern. Mit bloßem Auge konnte man nur ein kleines, weißes Pünktchen sehen. Ich verstand zwar nicht, was ein Freiballon sein sollte, doch später ging mir das Licht auf, daß wir Piccard bei seinem Höhen-Flugrekord gesehen hatten. Genauso sensationell war der Tag, als hier ein Zeppelin durchflog. Wir liefen aus den Häusern und sahen, wie sich am Himmel ein Flugobjekt, das aussah wie eine weiße Zigarre, lautlos fortbewegte. In der gleichen Zeit sichteten und bewunderten wir die ersten Flugzeuge. Eines Tages wurden wir durch ein unheimlich lautes Brummen aufgeschreckt, wir stürzten ins Freie, um zu sehen, was das war. Ein Flieger fegte fast den Schornstein weg, und da er so tief flog, konnte man den Piloten erkennen. Er drehte eine Runde über dem Dorf und winkte uns mit den Flügeln zu. Der älteste Sohn des Nachbarn war bei einer Flugstaffel und stattete seinem Heimatdorf auf diese Weise einen Besuch ab.

 

Der 1. Film.

Wir fielen von einem Erstaunen in das andere, denn auf einmal kam eine Filmbühne ins Tal. Man spielte „Berg in Flammen“, und da es noch keinen Vorführraum gab, fand das Ereignis im Gasthof Post statt. Ich durfte auch dorthin ins Kino und verstand nicht, daß alles nur Spiel war. Grauenvoll fand ich die Begebenheiten, hauptsächlich sind mir die Sprengungen und die flüchtenden Soldaten in Erinnnerung geblieben.

 

Die Hitlerzeit.

Nicht nur der technische Fortschritt veränderte unser Leben. Es gab Leute in braunen Uniformen und schwarzen Stiefeln, die laute Lieder sangen und unsere Treue für das Land Österreich verändern wollten. Mein Vater ließ sich jedoch nie dafür einnehmen und nannte den Hitler schon damals einen „Spruchbeutel“. Wenn dieser über den Rundfunk eine Rede hielt und man die Leute klatschen hörte, war er der Meinung, der Applaus würde durch eine Klatschmaschine künstlich erzeugt. Er konnte die Begeisterung der Menschen nicht begreifen und sah das Unheil nahen. Da wir Kinder durch ihn dieselbe Einstellung hatten, kam es mit den Nazi-Anhängern zu harten Fehden. Zu unserem Erstaunen waren nicht nur die deutsch-stämmigen Bewohner des Tales für dieses Regime, sondern auch Einheimische. Sie hielten Versammlungen ab, die man Appell nannte, ließen geladene Böller vor den Häusern der „Schwarzen“, explodieren und malten überall Hakenkreuze auf. Wir waren nicht faul und machten daraus ein österreichisches Symbol, das Kruckenkreuz. Sogar die Kleinsten wurden fanatisch und kratzten dieses zum Leidwesen des Pfarrers auch noch in die Kirchenbänke.

Für die Ansässigen wurden die Einnahmen der Gäste sehr schnell zur Haupt-Erwerbsguelle, man bestritt damit größtenteils den Lebensunterhalt. Durch die über Nacht von Deutschland verhängte, „1.000,- Mark Sperre“ bei der Einreise nach Österreich, kam es fast zum wirtschaftlichen Zusammenbruch. Schlagartig versiegten die Einnahmequellen, und der Pleitegeier schwebte sehr schnell über den Geschäftsleuten. Erleichtert erfuhren sie einige Wochen später von der Aufhebung derselben. Davon waren jedoch nur die Zoll-Ausschlußgebiete in Österreich betroffen. Das Kleine Walsertal gehörte zufällig dazu, denn es hat seit 1892 durch das Abkommen mit Bismarck und dem Kaiser Franz Josef für 100 Jahre dieses Privileg,- das in den vergangenen 90 Jahren zu Vorund Nachteilen der Bewohner des Tales beigetragen hat. Als der Österreicher Dollfuß ermordet wurde, weinten jung und alt, und noch trauriger waren meine Eltern, als sie tatenlos zuschauen mußten, wie die Nazis in einem Fackelzug durch das Tal zogen und bei uns einmarschierten. Diese sperrten die österreichisch gesinnten Männer ins Gefängnis, doch mein Vater ließ sich trotz Drohungen nicht in die NS Partei zwingen. Leider hat er den von ihm vorausgesagten Untergang des tausendjährigen Dritten Reiches nicht mehr erlebt. Wenn alle Leute so einen festen Charakter wie er gehabt hätten, wäre großes Leid erspart geblieben. Wegen dem Geschäft und der persönlichen Sicherheit durfte man die eigene Meinung nicht mehr zeigen, und wir mußten statt „Grüß Gott“ „Heil Hitler“ sagen.

Ein Funktionär betrat unseren Laden und grüßte so zackig, daß meine Mutter darüber sehr erschrak. Sie hatte in diesem Moment die Schaufel mit Polentamehl gefüllt und stieß für den Gruß den Arm samt der Schaufel – und dem Mehl in die Luft, wobei sich dasselbe über ihrem Kopf ergoß. Vor lauter Lachen brachte sie die Beantwortung „Heil Hitler“ nicht mehr zustande und ersparte sich dadurch die leidliche Pflicht. Sogar der Braune schmunzelte deshalb. Die besagten Leute jagten uns große Angst ein, und daher hatten wir keinen Mut, am Rundfunk einen Feindsender abzuhören. Wir waren nicht im Bild, was sich in der Welt abspielte und hatten keine Ahnung von den schrecklichen Geschehnissen außerhalb des Tales.

Da meine Gedanken der Zeit nach düster werden, schließe ich die Kindheitserinnerungen und hoffe, daß sich mancher Leser durch meine Schilderungen in die nie wiederbringliche Zeit zurückversetzen kann.

 

Ds Margretle.

Der Name „Margretle“, war für mich eigentlich nicht vorgesehen, denn die Täuflinge wurden meistens nach den Vorfahren benannt. Anders bei mir. Der Pfarrer „Vetter Xander“ (Onkel Alexander), erzählte meinen Eltern von einem Grabstein eines verunglückten Mädchens, darauf geschrieben stand: "Üsere Margarita ist mit'm hölzernä Schlittä in Himmel nei g'rittä".

Den Spruch fanden alle schön, und so bekam ich, Ihr zum Gedenken, den Namen Margarita, bei uns „Margretle“ genannt.

 

Schlußwort.

Ein Oberstdorfer Jagdkollege meines Vaters besuchte uns des öfteren. Da ich noch ein kleines Mädchen war und er sich wahrscheinlich meinen Namen nicht merken konnte, sagte er immer, wenn er mich zu Gesicht bekam: „Aha! – Und du bist das „Muster ohne Wert“. Solche abschätzigen Worte hörte ich gar nich gerne, und ich sah ihn deshalb lieber gehen als kommen. Die Neue Zeit brachte diesen Ausspruch mit sich, denn der Versand von Musterstücken war portofrei, und die Firmen nützten das, um auf diese Weise billig Reklame zu machen. Inzwischen muß ich ihm fast recht geben, denn die Beschreibung meiner Jugendstreiche legt es an den Tag, daß ich doch „ein Muster ohne Wert“ war.